Menschenrechte in Tschetschenien: Kadyrows langer Arm
Tschetscheniens Oppositionelle fürchten Verfolgung auch im Ausland. So wie Achmed Seriev, der von Deutschland nach Russland abgeschoben werden soll.
Begonnen hatte all der Schrecken für die Familie von Achmed Seriev in der Nacht vom 23. auf den 24. Dezember 2016. Da wurde Achmeds Bruder Magomed Seriev vor den Augen seiner Verwandten von Sicherheitskräften der Tschetschenischen Republik aus seinem eigenen Haus entführt. Dann hörte die Familie zunächst nichts mehr von Magomed.
Am 26. Januar 2017 wurde er in einer tschetschenischen Polizeikaserne hingerichtet, ohne Gerichtsverfahren, mit weiteren 26 Inhaftierten. Die regierungskritische Nowaja Gaseta berichtete im Juli 2017 von diesen Hinrichtungen. In der von der Zeitung veröffentlichten Liste findet sich auch der Name von Magomed Seriev.
Nach dem Mord an seinem Bruder fürchteten Achmed Seriev und seine Mutter um ihr Leben. Die Mutter wurde von den tschetschenischen Behörden „dringend gebeten“, nicht mehr nach ihrem Sohn Magomed zu suchen. Sie habe ja noch einen weiteren Sohn, habe man ihr drohend zu verstehen gegeben. Achmed selbst wusste, was ihm drohte. Er war 2015 bereits Opfer einer willkürlichen Festnahme mit anschließender Folter.
Immer wieder Entführungen
Gegenüber der taz warnt die Moskauer Menschenrechtlerin Swetlana Gannuschkina, Vorstandsmitglied des Menschenrechtszentrums Memorial und Vorsitzende des Komitees Bürgerlicher Beistand vor dem Glauben, verfolgte Tschetschenen seien außerhalb Tschetscheniens in anderen Gebieten Russlands in Sicherheit.
Am Donnerstag erst, so berichtet Gannuschkina am Telefon, war Sarema Musajewa, die Frau des ehemaligen Richters des Obersten Gerichts von Tschetschenien, Sajdi Jangulbajew, aus ihrer Wohnung in Nischnij Nowgorod von tschetschenischen Sicherheitskräften entführt worden.
Bei dieser Entführung seien auch die Anwälte ihrer Organisation Bürgerlicher Beistand, Sergej Babinez und Oleg Chabibrachmanow, von den tschetschenischen Sicherheitskräften misshandelt worden. Sie sieht den Fall dieser Entführung ähnlich gelagert wie den Fall Seriev.
Der Sohn des Ehepaares, Abubakar Jangulbajew, hatte zuvor über die Entführung von 40 Personen in Tschetschenien berichtet. Gannuschkina fürchtet, dass man mit der „Geiselnahme“ von Sarema Musajewa ihren Mann, der als Richter Immunität genießt, zu einer Rückkehr nach Tschetschenien zwingen will. Insgesamt passe die Entführung Musajewas in das Schema: Das Umfeld von Staatschef Ramsan Kadyrow jagt in ganz Russland nicht nur ihre Kritiker, sondern auch deren Familienangehörige. „Das ist Sippenhaftung“, so Gannuschkina.
Wellen von Massenverhaftungen
Am Samstag drohte Kadyrow auf seinem Telegram-Kanal der Familie von Sarema Musajewa und Sajdi Jangulbajew: „Auf diese Familie wartet ein Platz im Gefängnis oder unter der Erde.“ Man müsse diese Familie verhaften. Sollte sie sich der Verhaftung widersetzen, müsse man „diese Helfershelfer von Terroristen vernichten“, zitiert das russische Portal lenta.ru den Staatschef.
Seit Jahren berichten Menschenrechtsorganisationen immer wieder über die Verfolgung Andersdenkender, Strafverfahren aufgrund erfundener Vorwürfe, Folter und Hinrichtungen im Schnellverfahren, illegale Verhaftungen, Entführungen und das Verschwindenlassen von Menschen in „Geheimgefängnissen“, in denen sie aller Rechte beraubt werden. 2016 und 2017 gab es in Tschetschenien Wellen von Massenverhaftungen, Folter und Hinrichtungen im Schnellverfahren. Homosexuelle mussten um ihr Leben fürchten.
Menschenrechtler:innen berichten von einem weiteren Höhepunkt von Verschleppungen in der zweiten Dezemberhälfte 2021.
Anfang Januar forderten zahlreiche internationale Menschenrechtsorganisationen, darunter Amnesty International und Human Rights Watch, in einem offenen Brief an Präsident Putin Aufklärung zum Verschwinden zahlreicher Angehöriger tschetschenischer Oppositioneller, die sich im Ausland befinden. Viele dieser zwischen dem 20. und 30. Dezember 2021 in Tschetschenien Entführten seien nach wie vor spurlos verschwunden.
Verschwindenlassen durch staatliche Akteure
Die Verschleppten sind Angehörige der oppositionellen Blogger Tumsu Abdurachmanov und Hasan Halitov, des Gründers der exiltschetschenischen Menschenrechtsgruppe Vayfond, Mansur Sadulayev, des in Hamburg lebenden Direktors der Menschenrechtsorganisation Human Rights Centre Ichkeria, Aslan Artsuyev und des in Russland tätigen Juristen Abubakar Yangulbayev vom Komitee gegen Folter.
Auch wenn die Umstände dieser Verschleppungen noch nicht ganz geklärt sind, deuten die bisher vorliegenden Beweise darauf hin, dass es sich wahrscheinlich um ein gewaltsames Verschwindenlassen durch staatliche Akteure handelt. Einige von ihnen wurden später freigelassen, nachdem sie durch Drohungen und Demütigungen gezwungen worden waren, zu versprechen, ihre Verwandten zu einer Einstellung ihrer Aktivitäten zu bewegen, berichten die Menschenrechtler:innen.
Sie fürchten, dass einige Entführte gefoltert werden. So hat der Blogger Abdurachmanow eine Textnachricht erhalten, die angeblich von den Entführern stammt. Darin heißt es, seine Verwandten seien misshandelt worden und würden erst freigelassen, wenn er sich per Video beim Präsidenten der Tschetschenischen Republik entschuldige und jegliche öffentliche Kritik einstelle.
Menschenrechtspreis zurückgegeben
Im Februar 2020 war Abdurachmanow selbst beinahe einem Anschlag zum Opfer gefallen. Der Attentäter, der ihn in seiner schwedischen Wohnung überfallen hatte, hatte gestanden, den Auftrag aus Grosny erhalten zu haben. Ein schwedisches Gericht hatte ihn dafür zu zehn Jahren Haft verurteilt.
Wiederholt hatten russische Menschenrechtler:innen Abschiebungen von Tschetschenen nach Russland kritisiert. Im April 2021 hatte die russische Investigativjournalistin Elena Milaschina den Deutsch-Französischen Menschenrechtspreis aus Protest gegen die Abschiebung des Tschetschenen Magomed Gadajew von Paris nach Moskau der französischen Botschaft in Moskau zurückgegeben.
Wenige Wochen nach seiner Abschiebung war Gadajew in Tschetschenien in einem Verfahren, das ohne seinen Anwalt stattfand, zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt worden. Man hatte ihm Drogen- und Waffenbesitz vorgeworfen. Sofort nach seiner Abschiebung hatte Amnesty International die französischen Behörden aufgefordert, Gadajew wieder aus Russland zurückzuholen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja