Menschenrechte in Russland: Wider die Erinnerung
Die Auflösung von Memorial ist ein Urteil gegen alle Bürger*innen in Russland. Der Staat tilgt seine glanzlose Vergangenheit.
D as Urteil gegen die Menschenrechtsorganisation Memorial passt zum Verständnis der heutigen russischen Führung. Diese ist fast auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Einholen der sowjetischen Flagge über dem Kreml dabei, einen neuen Staat aufzubauen. Einen Staat, der auf komplette Kontrolle setzt, der Zweifler*innen erniedrigt, einsperrt, verjagt, der Huldigung will, von jedem und allen, und der keinen Blick nach hinten wagt.
Nicht auf die Fehler, die gemacht worden sind, nicht auf die Menschen, die wegen dieser Fehler ihr Leben ließen, nicht auf das Leid. Warum solle er denn Reue zeigen und sich schämen, anstatt stolz zu sein auf die ruhmreiche Vergangenheit, fragte sich der Staatsanwalt während der Verhandlung, bei der es schlussendlich um die inhaltliche Arbeit und die Gesinnung der Organisation ging und nicht um die Kennzeichnung als „ausländischer Agent“.
Staatliche Erinnerungspolitik schließt die Erinnerungspolitik, wie Memorial sie versteht, aus. Geschichte, das ist Glanz und Gloria, genauso wie der russische Präsident Wladimir Putin diese Geschichte herbeischreibt – als Heldenepos. Ein Infragestellen ist tabu. Memorial gibt es länger als den modernen russischen Staat. Dass Russlands gelenkte Justiz die Organisation nun auflöst, ist das Ende eines Landes, das in den 1990ern aufgebrochen war auf der Suche nach einem humaneren Leben.
Das Urteil der Richterin ist ein Urteil gegen alle Bürger*innen im Land, die aktiv etwas bewegen wollen und sich nicht mit der erstbesten „Wahrheit“ abfinden mögen. Es raubt den Menschen die Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht glänzt. Es raubt die Erinnerung an ihre Großeltern und Eltern, die unter dem stalinistischen Regime gelitten haben. Manche haben nie über ihr Leid gesprochen.
Ihre Nachkommen sind auf die Arbeit der Unerschrockenen von Memorial angewiesen. Denn ohne einen Blick in die Vergangenheit ist die Gegenwart nicht zu verstehen. Ohne das Verarbeiten des Terrors von damals hat es der Terror von heute nicht schwer. Das schamlose Urteil zeigt genau das.
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