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Menschenrechte in RusslandWider die Erinnerung

Kommentar von Inna Hartwich

Die Auflösung von Memorial ist ein Urteil gegen alle Bür­ge­r*in­nen in Russland. Der Staat tilgt seine glanzlose Vergangenheit.

Festnahme nach Protesten vor dem gericht in Moskau nach der GFerichtsentscheidung am 28.12 Foto: Gavriil Grigorov/Itar-Tass/imago

D as Urteil gegen die Menschenrechtsorganisation Memorial passt zum Verständnis der heutigen russischen Führung. Diese ist fast auf den Tag genau 30 Jahre nach dem Einholen der sowjetischen Flagge über dem Kreml dabei, einen neuen Staat aufzubauen. Einen Staat, der auf komplette Kontrolle setzt, der Zweif­le­r*in­nen erniedrigt, einsperrt, verjagt, der Huldigung will, von jedem und allen, und der keinen Blick nach hinten wagt.

Nicht auf die Fehler, die gemacht worden sind, nicht auf die Menschen, die wegen dieser Fehler ihr Leben ließen, nicht auf das Leid. Warum solle er denn Reue zeigen und sich schämen, anstatt stolz zu sein auf die ruhmreiche Vergangenheit, fragte sich der Staatsanwalt während der Verhandlung, bei der es schlussendlich um die inhaltliche Arbeit und die Gesinnung der Organisation ging und nicht um die Kennzeichnung als „ausländischer Agent“.

Staatliche Erinnerungspolitik schließt die Erinnerungspolitik, wie Memorial sie versteht, aus. Geschichte, das ist Glanz und Gloria, genauso wie der russische Präsident Wladimir Putin diese Geschichte herbeischreibt – als Heldenepos. Ein Infragestellen ist tabu. Memorial gibt es länger als den modernen russischen Staat. Dass Russlands gelenkte Justiz die Organisation nun auflöst, ist das Ende eines Landes, das in den 1990ern aufgebrochen war auf der Suche nach einem humaneren Leben.

Das Urteil der Richterin ist ein Urteil gegen alle Bür­ge­r*in­nen im Land, die aktiv etwas bewegen wollen und sich nicht mit der erstbesten „Wahrheit“ abfinden mögen. Es raubt den Menschen die Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht glänzt. Es raubt die Erinnerung an ihre Großeltern und Eltern, die unter dem stalinistischen Regime gelitten haben. Manche haben nie über ihr Leid gesprochen.

Ihre Nachkommen sind auf die Arbeit der Unerschrockenen von Memorial angewiesen. Denn ohne einen Blick in die Vergangenheit ist die Gegenwart nicht zu verstehen. Ohne das Verarbeiten des Terrors von damals hat es der Terror von heute nicht schwer. Das schamlose Urteil zeigt genau das.

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5 Kommentare

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  • Leider vergessen die meisten JournalistInnen daran zu erinnern, dass die Herrschaft von Herrn Putin auch eine Konsequenz der westlichen Politik gegenüber der ehemaligen Sowjetunion ist. Herr Gorbatschow wollte eine gemeinsame neue Weltordnung schaffen, aber westliche PolitikerInnen lehnten nach dem Motto “The winner takes it all” dankend ab. Es wurde vom Ende der Geschichte und der Überlegenheit des Kapitalismus geredet. Der Westen bevorzugte den Alkoholiker Yeltsin als politischen Führer von Russland. Herr Yeltsin half dann zum Neuen Jahr 2000 Herrn Putin in den politischen Führungssattel. So rächt sich die politische Kurzsichtigkeit westlicher PolitikerInnen und wir erleben die Konsequenzen!

  • Ein gefährliches Gebräu, aktuell on top noch Maßnahmen gegen AusländerInnen als Gesundheits-Checks angekündigt. Das alte Schema eines innenpolitisch nicht mehr sattelfesten autokratischen Systems: Aufklärung stoppen und Desinformation amplifizieren, Feinde identifizieren und Verunsicherung sowie Diskurse ausschalten, Kurs halten ohne Rücksicht auf Kollateralschäden. Hoffentlich meldet sich aus der Entourage der notorischen Putin-VersteherInnen mit diplomatischen Moderationsfähigkeiten und aus dem Kontext kremlaffine WahrerInnen von Menschenrechten schleunigst die Stimme der Vernunft, sonst ist bald ein Exodus zu befürchten. Fachkräftemängel in gelebter und wehrhafter Demokratie und im Widerstand gegen Gewalt ebnen seit Jahrtausenden den Weg zur Diktatur der Mächtigen, nicht des Proletariats. Die nächste Raketenstufe zur ultimativen Ikonisierung pseudopatriarchalischer Autokraten, Plutokraten und Filzokraten in einer neuen Bonzokratie ist gezündet, Umlaufbahnen sind aber nicht die Lebenswirklichkeit eines Volkes mit dem kulturellen Erbe Russlands.

  • Hat die Partei "die Linke" eigentlich dazu Stellung bezogen?