Menschenrechtsorganisation in Russland: Nächste NGO vor dem Aus

Die Moskauer Helsinki-Gruppe soll dichtgemacht werden. Russlands Justiz bemüht dafür offensichtlich konstruierte Vorwürfe.

Die Helsinki-Gruppe ist auch mit ihrem Namen verbunden: Aktivistin Ljudmila Alexejewa Foto: Itar-Tass/imago

BERLIN taz | Die Ausschaltung von Nichtregierungsorganisationen in Russland geht mit ungebremstem Tempo weiter. Jetzt hat es nach Memorial 2021 auch die Moskauer Helsinki Gruppe (MHG) erwischt. Anfang der Woche flatterte den Men­schen­recht­le­r*in­nen eine Klageschrift des Justizministeriums über die Auflösung der Gruppe ins Haus. Normalerweise bedarf es dazu mehrfacher schriftlicher Verwarnungen, doch offensichtlich hat die Behörde in diesem Fall einen kürzeren Dienstweg gewählt.

Der Klageschrift war eine außerordentliche Überprüfung vorangegangen, die auf Betreiben der Staatsanwaltschaft erfolgte. Zur Begründung für das Liquidationsbegehren heißt es, die MHG sei außerhalb der Region Moskau aktiv geworden und ihre Satzung entspreche nicht den aktuellen Anforderungen der Gesetzgebung. Zudem sei bei der Überprüfung nicht das gesamte Paket der geforderten Dokumente vorgelegt worden.

Als Beispiele für die unerlaubten Aktivitäten in anderen Regionen Russlands werden die Beobachtung von Gerichtsprozessen, die Kommunikation mit den dortigen Behörden sowie die Teilnahme an Veranstaltungen von regionalen Partnerorganisationen (auch online) genannt.

Die MHG ist die älteste Menschenrechtsorganisation Russlands. Sie wurde 1976 gegründet – noch zu Sowjetzeiten. Ihr Ziel war es, die Einhaltung der humanitären Artikel der Schlussakte von Helsinki zu fördern, die ein Jahr zuvor unterzeichnet worden war. In den Folgejahren waren die Mitglieder massiven Repressionen vonseiten des Staates ausgesetzt und wurden verfolgt, zwangspsychiatrisiert oder ins Exil getrieben.

Repressives Russland

1982 stellte die auf drei Personen dezimierte Gruppe ihre Aktivitäten ein und konnte ihre Arbeit erst gegen Ende der 80er Jahre im Zuge der Liberalisierungspolitik des Generalsekretärs des Zentralkomitees der KPdSU, Michail Gorbatschow, wieder aufnehmen.

Mit der Verabschiedung des Gesetzes über „ausländische Agenten“ im Jahr 2012, das seitdem mehrmals verschärft worden ist, wurde auch für die MGH die Luft immer dünner. Um nicht als ausländischer Agent registriert zu werden, verzichtete die Gruppe 2017 in vorauseilendem Gehorsam auf ausländische Gelder, was ihren Aktionsradius drastisch einschränkte. Aber dieser Schritt bewahrt die MHG offensichtlich nicht vor dem endgültigen Aus.

Laut Wjatscheslaw Bachmin, Co-Vorsitzender der MHG, sei die Gruppe auf ihre Schließung vorbereitet. „Wir werden diese eine entsprechende ‚Gerichtsentscheidung‘ jedoch in allen Instanzen anfechten. Meiner Meinung nach ist dies ein Indikator für die Entwicklung der Situation im Land und ein völlig natürliches Ereignis, das man nach dem Februar dieses Jahres hätte vorhersagen können“, zitiert das oppositionelle russischsprachige Webportal insider.ru Bachmin.

„In unseren Augen agiert der Staat so repressiv wie möglich, weil die internationale öffentliche Meinung für unsere Regierung keine Rolle spielt. Daher ist es möglich, ohne sichtbare Konsequenzen mit dem aufzuräumen, was für die Regierung am unangenehmsten ist“, führt er weiter aus. Das sei ähnlich wie in den 80er Jahren, nach dem Truppeneinmarsch in Afghanistan, als die MHG habe schließen müssen, so Bachmin.

„Dass der Kreml nun auch noch die älteste noch zu Sowjetzeiten gegründete Bürgerrechtsgruppe, verbunden mit Namen wie Juri Orlow und Ljudmila Alexejewa, auflösen will, zeigt seine Entschlossenheit, die letzten verbliebenen Orte unabhängigen Engagements und Denkens in Russland zu zerstören“, sagt Peter Franck, Russlandexperte bei der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. „Der Kreml führt neben der Aggression nach außen auch einen Krieg gegen die eigene unabhängige Zivilgesellschaft. Eine schwere Hypothek für die Zukunft Russlands!“

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