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Menschenrechte in BelarusEin großes Gefängnis

Kommentar von Barbara Oertel

Viel zu wenig unternimmt Europa gegen die Menschenrechtsverletzungen in Belarus. Nun droht auch noch die schleichende Eingemeindung durch Russland.

Alexander Lukaschenko (l.), Präsident von Belarus, zu Besuch im Kreml Foto: Shamil Zhumatov/dpa

D ie gängige Redewendung in Belarus: „Wer nicht gesessen hat, ist kei­n/e Belarusse/in“, beschreibt sehr treffend die Tragödie, die sich direkt vor der Haustür der EU abspielt. Innerhalb eines Jahres und damit seit dem 9. August 2020, dem Tag der gefälschten Präsidentenwahl, hat Staatschef Alexander Lukaschenko die einstige Sowjetrepublik in ein großes Gefängnis verwandelt.

Jüngstes Beispiel für seinen perfiden Rachefeldzug gegen Kri­ti­ke­r*in­nen ist das Urteil gegen Maria Kolesnikowa vom Montag dieser Woche. Elf Jahre soll die bekannte Oppositionspolitikerin in einem Straflager absitzen. Planung eines Umsturzes und Extremismus lauten die abstrusen Vorwürfe, die zum Synonym für die tatsächliche oder vermeintliche Beteiligung an Protesten geworden sind und dafür herhalten müssen, unbequeme Geister hinter Gitter zu bringen.

Die belarussische Menschenrechts­organisation Wjasna listet 659 politische Gefangene. Und täglich werden es mehr

Dass es erst dieser drakonischen Haftstrafe für eine Prominente bedurfte, um die Causa Belarus kurzzeitig wieder auf die Tagesordnung zu setzen, spricht Bände. Denn Kolesnikowa ist „nur“ ein Fall von vielen. 659 politische Gefangene sind derzeit bei der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna (Frühling) gelistet, und täglich werden es mehr.

Doch die Qualen und die Pein all dieser mutigen Menschen, die gefoltert, gebrochen und ihrer Würde beraubt werden, ist nicht einmal mehr eine Kurzmeldung wert. Hinzu kommen noch all jene Belaruss*innen, die im Ausland Zuflucht gesucht haben und dort einer ungewissen Zukunft entgegensehen. Der Westen hat wiederholt Sanktionen gegen Belarus verhängt – der schärfste Pfeil im Köcher.

Lukaschenko zu Putins Füßen

Und es mangelt auch nicht an Solidaritätsbekundungen – wie in dieser Woche zahlreichen Statements von Politiker*innen, auch in Deutschland, zu entnehmen war. Zweifellos: Die Forderung nach einer sofortigen Freilassung aller politischen Gefangenen ist die einzig richtige. Sie dürfte jedoch in Minsk ungehört verhallen und in Deutschland im allgemeinen Wahlkampfgetümmel untergehen. Außenpolitik war noch nie ein entscheidendes Feld, um bei Wäh­le­r*in­nen zu punkten.

Und Belarus ist derzeit vor allem dann ein Thema, wenn es darum geht, sich vor Geflüchteten, die Lukaschenko an der EU-Außengrenze in konzertierten Aktionen „abkippen“ lässt, zu schützen. So wird Europa schwersten Menschenrechtsverletzungen in Belarus wohl auch weiterhin tatenlos zusehen. Parallel dazu vollzieht sich eine Entwicklung, die scheinbar kaum noch aufzuhalten ist und die Be­laruss*in­nen zu „Gefangenen zwischen zwei Diktaturen“ macht, wie die britische Times anmerkte.

Gemeint ist die schleichende „Eingemeindung“ von Belarus durch Russland, die in ukrainischen und kritischen belarussischen Medien mit dem deutschen Wort „Anschluss“ beschrieben wird. Das Treffen zwischen Lukaschenko und Russlands Präsidenten Wladimir Putin am Donnerstag dieser Woche in Moskau, bei dem eine engere wirtschaftliche Zusammenarbeit vereinbart wurde, diente auch diesem Ziel.

Bislang ist der Unionsvertrag zwischen Belarus und Russland von 1999 kaum das Papier wert, auf dem er geschrieben ist. Das lag auch daran, dass sich Lukaschenko Bestrebungen Moskaus, die beiden Länder stärker aneinander zu binden, bislang erfolgreich zu widersetzen wusste. Doch damit ist es jetzt vorbei. Denn Lukaschenko, innenpolitisch geschwächt, in Europa isoliert und ohnehin durch wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland nur noch ein Herrscher von Moskaus Gnaden, steht mit dem Rücken zur Wand.

Er muss beim großen Bruder zu Kreuze kriechen. So stehen die Chancen für Putin, die Landnahme zu seinen Konditionen durchzuziehen, so gut wie noch nie. Er wird sie zu nutzen wissen – wohlwissend, dass kein nennenswerter Widerstand zu erwarten ist. „Schivi Belarus!“ („Es lebe Belarus!“) lautet ein Schlachtruf der belarussischen Opposition. Fragt sich, wie lange noch.

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Ressortleiterin Ausland
Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.
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5 Kommentare

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  • Der Begriff „Anschluss“ verwirrt mehr, als er klärt. Ein Anschluss = Inkorporation setzt die Befürwortung durch eine Mehrheit der „eingemeindeten“ Bevölkerung voraus. Davon kann in Belarus nicht die Rede sein. Also kommt nur ein Anschluss ohne Zustimmung der Bevölkerung in Frage, d.h. eine Annektion, in der dann Russland die Aufgabe übernähme, für Friedhofsruhe in Belarus zu sorgen. Warum sollte Putin daran ein Interesse haben?

    Sich 10 Mio neue „Staatsbürger“ ins Land holen, die das nicht wollen, und die erwiesenermaßen protestbereit sind? Putin hat diesbezüglich genug (und zunehmende) Probleme im eigenen Land.

    Lukaschenko und seinen Machtapparat eins zu eins übernehmen und auf Loyalität hoffen? Putin schlägt sich seit über 20 Jahren mit Lukaschenko herum, er weiß, wie riskant das ist.

    Oder Lukaschenko durch eine Marionette ersetzen? Auch sehr riskant, wenn im Exil eine gewählte Präsidentin mit legitimem Machtanspruch und fertiger Übergangsregierung sitzt.

    Belarus militärisch besetzen?

    Außerdem müsste Russland noch mehr Geld in Belarus versenken als jetzt schon, und würde eine neue Runde Sanktionen provozieren.

    Eine Annektion ist also eher unwahrscheinlich. Lukaschenko wird irgendwann nach Russland abhauen wie Janukowitsch, oder enden wie Ceauceascu.

    Man kann sich immer mehr wünschen, aber mich hat die Sanktionspolitik gegenüber Lukaschenko eher positiv überrascht (im Vergleich zu dem ewigen Rumgeeiere bezüglich Russland). Das letzte, und weitreichendste Paket ist erst vom Juni und danach war in allen europäischen Parlamenten Sommerpause. Was will man da erwarten? Das nächste Paket kommt bestimmt. Und natürlich tun die Sanktionen ihre Wirkung, Lukaschenko rennt ja nicht ohne Grund alle paar Wochen nach Moskau und hält die Hand auf.

    Nächste Woche sind in Russland Dumawahlen. Wenn es für die BelarusInnen gut läuft, dann hat Putin danach genug eigene Probleme. Was aus Lukaschenko wird, dürfte ihm herzlich egal sein, wenn es um den eigenen Machterhalt geht.

  • Der Westen hat wiederholt Sanktionen gegen Belarus verhängt – der schärfste Pfeil im Köcher.



    Was sind das nur für Sanktionen, die seit Monaten keine Wirkung erzielen?



    Ein Stopp der Pipeline unter Verknüpfung Menschenrechtsforderungen ergäbe ein klares Zeichen an Russland im eigenen Land aber auch in Belarus auf einen anderen Kurs zu steuern.



    Auch die Sanktionen die gegen Russland erhoben wurden sind nur kleinste Nadelstiche für Putin. Das ist Aussenpolitik al a Merkel, wohlwollend kritisieren und dem Kritisierten für `s geduldige Zuhören zur Versöhnunng Geschenke überreichen.



    Wirtschaftsprotektionismus at its best. Da sind die Sanktionen nur Show-Einlagen fürs Volk. Inszeniert unter Mitwirkung von Gerhard Schröder, Manuela Schwesig, u.a. SPD ?!

  • Okay - aber wenn Europa viel zu wenig unternimmt, wie es zu Beginn des Artikels heißt, dann würde ich Vorschläge erwarten, was es tun könnte, um die Demokratie dort zu stärken und Weißrussland nicht in Putins Arme zu treiben. A finde ich aber nichts.

    • @flipmar:

      Richtig. Mal abgesehen davon ob "Europa" sich überhaupt einmischen sollte, besitzt es einfach keine Mittel, die die beiden alten Herren beeindrucken könnten.

  • Es ist richtig, Außenpolitik interessiert die Deutschen nicht. Man ist lieber damit beschäftigt, den im weltweiten Vergleich nahezu perfekten Staat weiter zu perfektionieren. Es ist traurig, dass besonders die fortschrittlichen Kräfte sich für das was draußen ein paar Hundert Km weiter östlich passiert, nicht im Mindesten interessieren.