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Menschen mit BehinderungFirmen zahlen lieber Strafe, statt einzustellen

Steigende Arbeitslosigkeit trifft Menschen mit Behinderung besonders. Jedes vierte Unternehmen besetzt trotz Pflicht keinen Arbeitsplatz mit ihnen.

Die Arbeitslosenquote von Menschen mit Behinderung ist doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung Foto: dpa

Keine Frage, es sind nicht die besten Zeiten für die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Das trifft Menschen mit Behinderung allerdings besonders: Sie werden häufiger arbeitslos und finden schwerer wieder Arbeit als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Laut einer aktuell veröffentlichten Arbeitsmarktstudie verschlechtert sich die Situation für Menschen mit Behinderung weiter. Von einem „drastischen Rückschlag“ sprach Christina Marx, Sprecherin der Aktion Mensch.

Im Inklusionsbarometer Arbeit beleuchten die Aktion Mensch und das Handelsblatt Research Institute seit 2013 die Chancen am Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung. Im aktuell untersuchten Jahr 2024 lag die Arbeitslosenquote bei Menschen mit Behinderung bei fast 12 Prozent, und damit etwa doppelt so hoch wie in der Gesamtbevölkerung.

Mehr als 175.000 Menschen mit Behinderung waren demnach 2024 arbeitslos, im Jahr davor waren es noch knapp 166.000. Rund 44 Prozent von ihnen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Zum Vergleich: Bei Menschen ohne Behinderung liegt der Anteil Langzeitarbeitsloser bei 35 Prozent. Menschen ohne Behinderung haben außerdem doppelt so hohe Chancen, aus der Arbeitslosigkeit wieder herauszufinden, als Menschen mit Behinderung.

Dabei hatte die Vorgängerregierung versucht, die Weichen für eine positivere Entwicklung zu stellen. 2023 hatte die Ampel das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts verabschiedet und darin unter anderem die Strafabgaben erhöht, die Unternehmen zahlen müssen, die ihrer Pflicht zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung nicht nachkommen.

Viele Unternehmen ignorieren Beschäftigungspflicht

Laut Gesetz müssen Unternehmen, die 20 oder mehr Mit­ar­bei­te­r*in­nen haben, 5 Prozent ihrer Arbeitsplätze an Menschen mit Behinderung vergeben. Mehr als 180.000 Unternehmen fallen unter diese Beschäftigungspflicht. Doch nicht einmal 40 Prozent der Unternehmen erfüllten 2024 ihre Beschäftigungspflicht vollständig. Ein Viertel der verpflichteten Unternehmen besetzte sogar keinen einzigen Arbeitsplatz mit behinderten Menschen. Das sind 47.000 Unternehmen.

Die Beschäftigungs- und Einstellungsbereitschaft der Unternehmen habe weiter nachgelassen, konstatieren die Ver­fas­se­r*in­nen des Inklusionsbarometers Arbeit. Und das, obwohl es für Unternehmen umfassende Beratungsangebote und finanzielle Unterstützung bei der Beschäftigung von Menschen mit Behinderung gibt.

„Es ist zu befürchten, dass es viele Jahre dauern und massive Anstrengungen erfordern wird, um diese Krise zu überwinden“, sagt die Aktion-Mensch-Sprecherin Marx. Das Potenzial eines inklusiven Arbeitsmarktes – gerade in angespannten Zeiten – werde dabei verschenkt.

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15 Kommentare

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  • Ich habe mal in einer „vorbildlichen“ Firma gearbeitet, die haben rausgefunden wie man mit den Fördermitteln bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung seine Firma finanziert. Die Quote selbst war super hoch, die haben dann alle aber immer diesen Förderkreisel gemacht. Arbeitsamt, Förderung + Mindestbeschäftigungszeit, 1 Jahr oder so Arbeitslos, neue Förderung …



    Nur auf irgendwelche Statistiken schauen erleichtert zwar die Recherche, ein realistisches Bild bekommt man davon aber nicht.



    Es wäre btw schön gewesen zu erklären, unter welchen Bedingungen Firmen überhaupt unter die Pflicht fallen.

  • Von Strafe kann man hier eigentlich nicht sprechen, weil Strafe immer ein Verschulden voraussetzt und die Ausgleichsabgabe verschuldensunabhängig zu zahlen ist. Der Arbeitgeber muss die Abgabe also auch leisten, wenn er sich nach Kräften bemüht und alles erdenkliche getan hat und seine verzweifelte Suche nach einem schwerbehinderten Mitarbeiter erfolglos geblieben ist.

  • Was viele Firmen nicht wissen: Bei der Einstellung einer behinderten Person kann man unter Umständen und in der Regel befristet nicht unerhebliche Lohnzuschüsse bekommen.

  • Die Strafen und nicht lösungsorientiert und viel zu niedrig.



    Die Firma ist doch quasi das Tatwerkzeug für diese Ungehörigkeit.



    Lösung: Konfiszieren und ggf. dicht machen, bis der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.



    Es könnte so einfach sein, wenn die Korruption in dieser BRD nicht derart hoch wäre.



    Und Richter/innen urteilen eh nach Regierungsvorgabe.



    Gewaltenteilung? In der BRD? HAHAHA !

    • @Mc Nair:

      Sehr rührend, dieser Versuch, die Gerichte zu dämonisieren. Die Betriebe zu schließen ist wohl ebenfalls keine (ernsthafte) Lösung. Wo wollen Sie schwerbehinderte Menschen denn danach noch beschäftigen? Auch ist nicht jeder gewährte Vorteil gleich ein Fall von Korruption. Das korruptive Element läge dann auch eher in der Förderung der Arbeitgeber, da diesen die Zuschüsse zu den Lohn- und Investitionskosten zugutekommen.

    • @Mc Nair:

      Sie scheinen in einem anderen Staat gleichen Namens zu leben. Oder von außerhalb meinen hierzulande etwas deuten zu müssen.

  • Bedauerlicherweise nicht wirklich überraschend. Die Abtrennung von Behhinderten (so muss mal das leider wirklich nennen) erfolgt ja schon in der Schule. Inklusion ist - trotz Ankündigungen - leider überhaupt nicht die Regel. Im Gegenteil, Behinderte gehen äusserst selten auf normale Grundschulen, sogar die UN hat Deutschland deswegen mehrfach gerügt, wegen der damit einhergehnden Diskriminierung und Ausschluss vom gewöhnlichen gesellschaftlichen Leben.

  • Strafen erhöhen und fertig.

    Aber seit dem Schäuble nicht mehr ist haben Menschen mit Beeinträchtigungen keine Lobby mehr.

  • Hier wäre etwas mehr Differenzierung nötig.



    In meiner IT Firma waren diverse Menschen mit Behinderungen beschäftigt, unter anderem ein Kleinwüchsiger und verschiedene Mitarbeiter mit Autismus. Alles kein Problem.



    Allerdings wüsste ich beim besten Willen nicht, wo man Menschen mit kognitiven Behinderungen einsetzen sollte - solche Arbeitsplätze gibts da schlicht nicht.

    • @Sandra Becker:

      Früher wurde der Hof vom fou de village gefegt, und es gab ihm etwas. Durfte nur kein McKinsey mitbekommen.



      Und nicht jede kognitive Behinderung wirkt sich auf alles aus. Da geht zuweilen schon mehr als Tütenkleben. Wenn ich das beim Gegenüber bemerke, nutze ich eben stärkere Präsenz und einfachere Sprache mit klaren Bitten.

  • Es wird Firmen aber auch sehr leicht gemacht, sich zu drücken, indem sie einfach Aufträge an Werkstätten weitergeben. So können sie Menschen ausbeuten und müssen nicht mit ihren Behinderungen konfrontiert werden. (Siehe dazu die Anstalt Folge zu Behinderung)



    Man fragt sich schon, wie es sein kann, dass alle Nase lang sich ein Unternehmen über zu wenig Fachkräfte beschwert, wenn sie doch da sind.

  • Ableismus von Unternehmen sollte ein Skandal sein. Stattdessen Schulterzucken und es sei ja notwendig, weil ein Unternehmen könne nicht Rücksicht auf wenige Prozent nehmen.

  • Wird wirklich lieber Strafe gezahlt, statt einzustellen? Gibt es genauere Untersuchungen dazu, ob dahingehend tatsächlich systematisch vorgegangen wird, oder es schlichtweg ein Missmatching gibt zwischen Bewerber*innen und Arbeitgeber*innen?

    Quotenregelungen sind immer die schlechtesten Instrumente, um einen Missstand zu beheben. Vielleicht besser als gar nichts, aber nie wirklich praktisch und schon gar nie elegant.

  • Mit ausgeheiltem Krebs wäre mensch immer noch schwerbehindert. Rollie-istens können oft einen Laptop bedienen ... Wer dieses Potenzial grundsätzlich nicht nutzt, schadet sich wohl hauptsächlich selbst. Mehr "Mut"!

  • Es wäre interessant zu erfahren, ob die Quote im Öffentlichen Dienst höher ist. Ich fürchte, auch da sieht es mau aus - denn es sind nicht nur die Arbeitgeber, die da nicht ran wollen, behinderte Kollegen werden oft genug auch von den Nicht-Behinderten abgelehnt. Die Begegnung mit den Behinderten löst Unwohlsein, Ängste, Unsicherheit aus.