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Menschen in Kassel sind am glücklichstenZufrieden im Mittelmaß

Ann-Kathrin Leclere
Kommentar von Ann-Kathrin Leclere

Kassel ist laut einer neuen Studie die glücklichste Stadt Deutschlands. Wie bitte?! Unsere Autorin kommt aus Kassel und versucht es zu verstehen.

Kassler essen Kasseler Foto: Kai Schwabe/Westend61/mauritius images

Kassel, du bist für mich ein Traum aus Asphalt“, sangen die „Echten Kerle“ 2011 a cappella auf der klebrigen Bühne meiner Gesamtschule. Nach dem mittelmäßigen Auftritt blieb ein wochenlanger Ohrwurm, den wir bei Grillfesten auf dem Bundesgartenschau-Gelände weiter sangen, „nie zu nass und nie zu trocken, nie zu warm und nie zu kalt“. Von diesem kurzen Hype der Heimatverbundenheit ist bei mir nach der Schule wenig geblieben. Nichts wie weg, dachte ich eher. Lieber raus aus der Stadt, bei der man nach der Abifeier um 11 Uhr nachts mit dem Bier in der Hand nach Hause läuft, weil man dachte, es passiert noch was und dann passiert nichts mehr.

Doch auch wenn es überrascht: Irgendwas scheint an der nordhessischen Großstadt toll zu sein. Denn sie ist im SKL Glücksatlas des Allensbacher Instituts dieses Jahres zur glücklichsten Stadt Deutschland erkoren worden. Noch überraschender ist der erste Platz, weil Kassel in vielen objektiven Faktoren eher mittelmäßig abschneidet. Zuletzt „stieg die Arbeitslosigkeit auf 8,4 Prozent. Im Ranking der Lebensqualität liegt die nordhessische Stadt nur auf Rang 16 von 40“, steht auf der Glücksatlas-Website. Kassel, wie viele andere Städte in den oberen Rängen der Liste, gehört damit zu den sogenannten „Overperfomern“, da das subjektive Glücksempfinden über der erfassten „tatsächlichen“ Lebensqualität liegt.

Warum ist das so? Auch nach jahrelangem Abstand kann ich höchstens mittelmäßige Worte über Kassel finden. Schlimm zum Beispiel, dass in Soziokultur so wenig investiert wird. Man könnte ja vielleicht mal versuchen, die jungen Menschen, die wegen der Kunst-Uni in der Stadt kommen, auch zum Bleiben zu motivieren. Stattdessen wurde der einzig annehmbare Technoklub, das Arm, vor einigen Jahren geschlossen und ein beliebter Treffpunkt, die Perle II, nun auch. Oder den absurd teuren und schlechten ÖPNV angehen (drei Euro für ein Einzelticket in der Innenstadt, wo sind wir hier? In Berlin oder was?). In dem Stadtteil, in dem ich aufgewachsen bin, fährt bis heute kein Bus nach 22 Uhr (Wo sind wir hier? Auf dem Dorf oder was?).

Die Documenta gibt's, immerhin

Vielleicht, denke ich aber, ist es bei diesem phänomenalen Ergebnis im Glücksatlas an der Zeit, mit dem Meckern, dem „Gemähre“, wie es in der Mundart heißt, aufzuhören und mit einem frischen Blick auf die Stadt zu schauen. Schließlich sehen auch die über 700.000 Be­su­che­r*in­nen der internationalen Ausstellung für Moderne Kunst, documenta, die dort alle fünf Jahre stattfindet, in Kassel eine Perle. Zumindest für Kurztrips scheint die Stadt also okay zu sein.

Laut dem Institut Allensbach finden sich die glücklichsten Menschen in Städten, „die familiär, beschaulich, sicher und grün geblieben“ sind. Warum sie in Kassel leben, das habe ich in den letzten Jahren Freun­d*in­nen und meine Familie gefragt. Die Antworten decken sich mit den Ergebnissen des Glücksatlasses: Man könne gut Radfahren und Spazieren. „Ich kenne keine Stadt, in der man loslaufen kann und stundenlang nur alte Bäume, Parks und keine Autos sieht“, sagte kürzlich eine Freundin zu mir.

Nagut, es gibt einige Sachen, mit denen Kassel angeben kann und die Leute mit Stolz sagen lässt: Die Stadt hat sich gemacht! Mit über 2,4 Quadratkilometer ist der Bergpark Wilhelmshöhe der größte Europas und Weltkulturerbe – und wunderschön! Die sommerlichen Wasserspiele an den Kaskaden des Denkmals Herkules – auch toll! Die Fulda, die direkt an der Innenstadt vorbeiführt – deutsche Adria!

Mystische Stadt

Die Überbleibsel der documenta, wie etwa ein Bronze-Baum oder ein riesiger Fotorahmen, die nach der Ausstellung in der Stadt blieben – ziemlich sympathisch. Und schließlich hat Kassel trotz der Einschnitte eine beachtliche Kulturszene aufgebaut, die international erfolgreiche Band Milky Chance kommt auch aus Kassel – Zufall? Ich glaube nicht.

Glücklich macht Kassel aber wahrscheinlich gerade deswegen, weil es eben nicht overperformt. Ein­woh­ne­r*in­nenzahl mittel, nicht zu viel Lärm, nicht zu viel Arbeitslosigkeit, die Mieten sind ok, geografisch liegt es sogar in Deutschlands Mitte. Für viele von außerhalb bleibt Kassel ein Mysterium, die meisten kennen vielleicht den nicht wirklich einladenden Willi-Bahnhof, weil sie dort immer umsteigen und danach behaupten Kassel zu kennen.

Oder ihnen kommt – Achtung grober Fehler – der Kassler Braten in den Kopf. Der kommt aber gar nicht aus Kassel. Die deutsche Salciccia „ahle Wurscht“ dafür übrigens schon. Gut für Kasseler, Kasselaner oder Kasseläner (je nachdem, wie viele Generationen schon in Kassel gelebt haben). So bleibt alles, wie’s ist, und die Leute glücklich. Oder wie man hier sagen würde: das Mittelmaß, s’ schigget.

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Ann-Kathrin Leclere
Aus Kassel, lange Zeit in Erfurt gelebt und Kommunikationswissenschaft studiert. Dort hat sie ein Lokalmagazin gegründet. Danach Masterstudium Journalismus in Leipzig. Bis Oktober 2023 Volontärin bei der taz. Jetzt Redakteurin für Medien (& manchmal Witziges).
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9 Kommentare

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  • Das Kasseler Herbar fühlt sich dort auch wohl, schon seit 16hundertsoundsoviel - und trotz weggebombt haben Residenzstädte immer ihren eigenen Charme, das größenwahnsinnige und im Grunde ja (Barock!) völlig geschmacklose Hightech-Park-Dingens, das über Wilhelmshöhe aufragt, und in dem mensch sehr sehr schön bummeln kann, hätt's ohne gottesgnadenfürstlichen Wahn ja auch nie gegeben.

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  • Ohh wie ich die liebe. Aus der Provinz kommend in eine Großstadt ziehen und einen schön abledern über seine Herkunft. Sagt wahrscheinlich mehr über die Person als über die Heimat aus. Besonders in Berlin zu besuchen 🤣.

    Ach ja, Einheimischer ist man erst dann, wenn man da aufgewachsen ist…

    • @Andi S:

      Inne Eifel “…die sinn nich von hier!“



      Bis zur 4. Generation - aber locker Alter!

      • @Lowandorder:

        Jupp, die Eifel ist special 😁

  • Als Berliner, der die ganze Woche auf weniger als 6 Stunden schlaf kam, weil die Nachbarn das Nachtleben so ausgeprägt gelebt haben, klingt eine Stadt mit gesundem Schlafrhythmus gerade wie ein Traum.

  • wobei das wort "mittelmaß" hier doch etwas genauer definiert werden will.



    würde ich es doch eher als "grünen bereich" einstufen -im gegensatz zu rot oder orange.

    denn nicht das qualitative mittelmaß ist hier zu 100% gemeint, sondern eher das quantitative mittelmaß.



    soll heißen, mieten die "günstig" sind - also im sogenannten mittelmaß, müsse nicht qualitativ minderwertig sein. genau darum sollte es gehen.

    es ist also nicht wirklich ein Mittelmaß, sondern ein adäquates Maß. Das alle dinge im gleichgewicht, bzw im Maß hält und qualitativ angleicht, anstatt ein paar dinge eben viel zu viel raum zu geben und die anderen zu vernachlässigen.

    Das ist auch der trick bei der ganzheitlichkeit. allen dingen den ausreichenden raum geben, damit sie sich qualitativ und sicher entfalten können und nicht mehr raum einnehmen als alles anderen zusammen. und diesen sogar irgendwann okkupieren ...

    schöner artikel!!

  • Kasseler, Kasselaner und Kasseläner heißt das!



    Und der ist gut:



    "Ich kenne keine Stadt, in der man loslaufen kann und stundenlang nur alte Bäume, Parks und keine Autos sieht“ - wer sowas sagt, muss wohl ausschließlich durch die Aue oder den Bergpark Wilhelmshöhe spaziert sein. Ein Bekannter, den ich mal nach KS führte, drückte es treffender aus:



    "riesige Straßen, die von nichts nach nichts führen"

  • …anschließe mich - ob

    Kassler Kasselaner Kasseläner - egal.



    Als sinnfällige Varianten der Nordhessen!



    Sach nach zehn Jahren - sojet in Mbg/Lahn - erlebt.



    Weitgehend humorfreie eher ungelenke Spezies! Gelle



    Glücklich? Ah geh! Ahle Worscht un gut is •

  • >Kasseläner < ist die höchste Stufe lt. Kassel-Wiki