Meinungsfreiheit in Russland: Solidarischer Abgang
Nach Berichten über die Politikerin Walentina Matwijenko schmiss der russische „Kommersant“ zwei Reporter raus. Jetzt folgt das Politikressort.
„Ein Aktionär hat das Recht, Personalentscheidungen zu treffen und Mitarbeiter haben das Recht, mit ihnen nicht einverstanden zu sein. Dann ist die einzige Möglichkeit, den Job zu wechseln“, schreibt der stellvertretende Chefredakteur des Kommersant, Gleb Tscherkassow, in einem Facebook-Post vom 20. Mai. Er gehört ebenfalls zu den Mitunterzeichnern des Kündigungsschreibens.
Der wirtschaftsliberale Kommersant wurde 1989 gegründet und 2006 von dem Kreml-nahen Oligarchen Alischer Usmanow übernommen. Dennoch galt das Blatt in der weitestgehend gleichgemachten Medienlandschaft, die ein propagandistisches Sprachrohr der Regierung ist, weiterhin als Qualitätsmedium.
Bis jetzt. Denn nun scheint es so, als habe Usmanow in seinem Sinne die Notbremse gezogen. Am 17. April veröffentlichte der Kommersant einen Beitrag über die Vorsitzende des Föderationsrats, Walentina Matwijenko. Seit 2011 steht die ehemalige Gouverneurin von St. Petersburg und Verbündete von Präsident Wladimir Putin der zweiten Parlamentskammer vor.
Gerüchte über die Nachfolge
Unter ihrer Ägide segnete der Föderationsrat unter anderem ein Verbot für Ausländer, russische Waisenkindern zu adoptieren, sowie die Stigmatisierung und Kriminalisierung von Nichtregierungsorganisationen als „ausländische Agenten“ ab.
Unter Bezugnahme auf nicht näher genannte Regierungsquellen berichtete der Kommersant über mögliche Pläne, Matwijenko im Mai von ihrem Amt zu entbinden und auf den Leitungsposten des Rentenfonds abzuschieben. Es kursieren Gerüchte, dass Sergej Narischkin, bislang Chef des Auslandsgeheimdienstes, ihr Nachfolger wird.
Auch der unabhängige TV-Sender Doschd, der massiv unter Druck gesetzt worden war und heutzutage nur noch im Internet existieren kann, arbeitete sich an der Kausa Matwijenko ab. Ihre Absetzung könne auch mit dem Fall eines Abgeordneten des Föderationsrats zu tun haben, der im vergangenen Januar im Zuge von Mordermittlungen festgenommen worden war.
Oligarch Alischer Usmanow fühlte sich nicht bemüßigt, zu den Journalisten des Kommersant einen Kommentar abzugeben. Kurz darauf ließ sein Vertreter jedoch wissen, dass sich Usmanow nie in redaktionelle Belange einmische.
Der Meinungsfreiheit würdig
Auch der Chefredakteur des Kommersant, Wladimir Schelonkin, zog es vor, sich über Usmanow auszuschweigen, fiel dafür aber seinen Mitarbeitern in den Rücken. „Wir haben uns von den Journalisten getrennt, weil während der Vorbereitung für den Artikel die redaktionellen Standards des Kommersant verletzt worden sind“, wird er von der Tageszeitung Wedomosti zitiert.
Mitteilungsbedarf hatte hingegen ein Nutzer des Onlineauftrittes der Tageszeitung Wedomosti, die ebenfalls über den Fall berichtet hatte. „Wenn die Journalisten überprüfbare Quellen hatten, warum musste man sie dann hinausschmeißen“, schreibt er in einem Kommentar. „Das ist doch die Arbeit von Journalisten Insiderinformationen zu beschaffen. Eine traurige Tendenz. Und das resultiert aus dem Wunsch der Politiker, alles unter den Teppich zu kehren. So etwas darf nicht sein.“
Die Solidarität mit den geschassten Kollegen des Kommersant nimmt derweil noch andere Formen an. Am Montagabend veröffentlichten 140 Mitarbeiter des Unternehmens einen offenen Brief. Darin entschuldigen sie sich dafür, dass der Kommersant auf lange Zeit seine LeserInnen nicht mehr über die russische Politik werde informieren können.
„Diejenigen, die den Kommersant jetzt wegen kurzfristiger politischer Gewinne zerstören, kennen die Geschichte Russlands schlecht. Wir sind davon überzeugt, dass unser Land einer besseren Zukunft würdig ist. Und der Meinungsfreiheit würdig“, heißt es in dem Brief der Mitarbeiter.
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