Meinungsforscher über russische Feindbilder: „Mitgefühl gibt es nicht“
Putin hat Erfolg, weil er den Großmachtstatus reanimieren will. Seine Propaganda sorgt für klare Trennungen: hier die Russen, dort das Fremde, sagt Lew Gudkow.
taz: Herr Gudkow, hat sich das Ukrainebild in der russischen Öffentlichkeit seit dem Krieg verändert?
Lew Gudkow: Die Öffentlichkeit hat sich von der ukrainischen Seite losgesagt, es findet eine Entidentifizierung statt. Das brutale Vorgehen der russischen Seite wird im Rückgriff auf die offizielle Propaganda gerechtfertigt. Ukrainer sind Nationalisten und Feinde Russlands.
Hat sich seit dem Abschuss der Boing 777 daran etwas geändert?
Hierfür liegen uns noch keine Daten vor. Doch ich vermute, dass sich die öffentliche Meinung weiterhin an der Propaganda orientiert. Die sieht die Schuld allein bei der Ukraine.
Und das Feindbild der Ukrainer?
In Umfragen ukrainischer Kollegen war das Verhältnis der Ukrainer zu Russland bis Mai noch deutlich wohlwollender als umgekehrt. Seit den Kämpfen im Donbass aber hat sich das Feindbild verhärtet. Die Aggression hat die Konsolidierung der Ukraine als Nation beschleunigt.
Damit die Propaganda des Kreml verfängt, muss der Resonanzboden ideologisch doch vorbereitet sein …
Natürlich war die russische Gesellschaft für nationalistisches Gedankengut bereits empfänglich. Der Zerfallsprozess der Sowjetunion ist noch immer nicht abgeschlossen. Das imperiale Bewusstsein hat sich nicht verflüchtigt, es wurde nur überlagert.
leitet das Meinungsforschungsinstitut Lewada-Zentrum in Moskau. Es zählt zu den letzten unabhängigen sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Russlands. 2011 erschien: "Russland. Kein Weg aus dem postkommunistischen Übergang?"
Vor den Ereignissen auf dem Kiewer Maidan sprachen sich noch etwa zwei Drittel der Russen gegen eine Einmischung in der Ukraine aus.
Nur 28 Prozent begriffen die Kiewer EU-Ausrichtung als Verrat an dem Mythos einer „slawischen Bruderschaft“. Erst als alternative Informationsquellen abgeschaltet und die Propagandamaschine angeworfen wurde, änderte sich das. In der Provinz waren 75 Prozent binnen Kurzem überzeugt, an allem sei der Westen schuld.
Hat sich die Indoktrination in den letzten sechs Monaten verändert?
Die Menschen werden nun sehr direkt und persönlich angesprochen: „Unsere Frauen verzweifeln“, „unsere Kinder leiden“, „uns Russen töten sie“. Der antiwestliche Impetus läuft im Hintergrund mit. Anders funktioniert es nicht mehr. Als der Kreml 2012 gegen die Opposition mobilisierte und sie zu Handlangern des „faulenden Westens“ erklärte, hörte niemand hin. Zudem lässt die Propaganda bis in die Tonlage hinein den Kampf gegen den Faschismus aus dem Zweiten Weltkrieg wiederaufleben. Am Ende ergibt sich eine klare Trennung: hier die Russen, dort das Fremde – die Faschisten.
Was bezweckte der Kreml, als er auf angeblich massive faschistische Tendenzen in der Ukraine verwies?
Die Revolution musste diskreditiert werden. Die Gründung eines demokratischen Staates durchkreuzte Präsident Putins Projekt einer Eurasischen Union, die die Kontrolle über den postsowjetischen Raum wiederherstellen sollte. Putins Erfolg begründet sich vor allem durch seine Außenpolitik, der Wiederherstellung des Großmachtstatus. Die Zugehörigkeit zu einer Großmacht kompensiert für viele Bürger das Gefühl der permanenten Erniedrigung und relativen Armut im eigenen Land. Als Untergebene der Sowjetunion fühlten sie sich zumindest anerkannt, weil die Welt vor ihnen zitterte. Nach dem Anschluss der Krim meinten 80 Prozent einmütig: Russland ist wieder Großmacht. Dieser Zustand der Erregung hält noch an.
Putin genießt höchste Zustimmungsraten, trotzdem vertraut die Bevölkerung den staatlichen Institutionen nicht.
Gereiztheit und Misstrauen gegenüber den Machthabern sind nicht verschwunden. Jeder weiß, worauf sich das Regime stützt: Geheimdienst, Putins Oligarchen-Freunde, Beamte, Direktoren der staatlichen Großbetriebe und Vertreter der Gewaltministerien wie dem Innen- oder Verteidigungsministerium. Dennoch sind es nur 10 bis 16 Prozent, die Putin für das, was im Land passiert, verantwortlich machen. Im Herbst 2013 waren es noch 43 Prozent. Die Menschen sind desillusioniert und hilflos, weil sie keine Alternative sehen. Da sind noch Relikte des totalitären Systems am Werk. Niemand will Verantwortung übernehmen, zeigt aber demonstrativ nach außen Loyalität. Russlands moralische Verfassung ist beklagenswert.
Viele Bürger verlangen von Putin, die Separatisten zu unterstützen. 40 Prozent wären am liebsten gleich in der Ukraine einmarschiert.
Die Bereitschaft, Experten und humanitäre Hilfe in die Ostukraine zu schicken, hat zugenommen. Die Unterstützung ist aber virtuell, da niemand zu finanziellen Opfern bereit ist. Keiner möchte für die abenteuerliche Politik der Führung zur Verantwortung gezogen werden. Die Bevölkerung fürchtet auch Sanktionen nicht, weil sie glaubt, die würden nur die kleine Oberschicht treffen. Sobald die Wirtschaft in Mitleidenschaft gezogen wird, dürfte die Zustimmung abnehmen. So langsam müsste auch eine Ermüdung über diesen Krieg einsetzen.
Könnte das die Stimmungslage verändern?
Nein, dem steht der weit verbreitete Zynismus im Wege. Mitgefühl dürfen die Ukrainer nicht erwarten. Mich erinnert das an den Zweiten Tschetschenienkrieg (1999), als die Gesellschaft weder Verständnis noch Mitgefühl für die Tschetschenen aufbrachte.
Gibt es auch kein Gefühl der Scham gegenüber den Ukrainern?
Nein. Scham empfinden die meisten, weil sie in einem Land mit ungeschliffenen Sitten leben. Viele schämen sich wegen ihrer Unterwürfigkeit, sie fühlen sich erniedrigt und abhängig. Die alltägliche Frustration äußert sich im imperialen Komplex, der sich auf der kollektiven Ebene zu einer Machtdemonstration auswächst, die aus der Erinnerung an eine heldenhafte Vergangenheit gespeist wird. Das Werteverständnis ist sehr widerstandsfähig: Wir führen seit 1985 ein und dieselbe Erhebung durch, danach hat sich der Wertekanon kaum verändert.
Leidet die junge Generation auch am Imperiumsverlust?
Das Bildungssystem reproduziert alte sowjetische Vorstellungen. Fast alle Altersgruppen haben diesen Komplex. Nur in der Altersklasse zwischen 40 und 50 Jahren mit Hochschulbildung gibt es ein paar kritischere Stimmen.
Welche Zukunftsvision hat der Kreml?
Er hat keine. Alles, was wir haben, ist die ewige Anrufung der Vergangenheit.
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