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Mehr Antisemitismus seit dem 7. OktoberLieber ohne Kippa

Kommentar von Klaus Hillenbrand

Die Anfeindungen, die jüdische Menschen erleben, nehmen immer weiter zu. Es wird Zeit, dass sich die schweigende Mehrheit hinter sie stellt.

Demonstrierende auf einer pro-israelischen Demo setzten sich gegen Antisemitismus ein Foto: Annette Riedl/dpa

E s dürfe niemals sein, dass Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland in Angst und Schrecken leben müssten, dass Juden sich nicht mehr trauen könnten, mit Kippa aus dem Haus zu gehen oder an Hochschulen lieber nicht mehr sagten, dass sie jüdisch sind. So sprach Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag zum Jahrestag des Hamas-Massakers vom 7. Oktober.

Scholz hat zweifellos recht, aber den Konjunktiv hätte er sich sparen können. Tatsache ist, dass ich keinen Juden kenne, der es noch wagt, mit Kippa das Haus zu verlassen, aber viele, die an der Uni lieber verschweigen, dass sie jüdisch sind. Tatsache ist auch, dass Deutschland Schauplatz der mächtigsten Welle antisemitischer Straftaten seit 1945 ist.

Ein Massaker an Zivilisten wird bejubelt. Eine Terrorgruppe wird zum Befreier erklärt, während ihre Opfer zu Tätern gemacht werden. Deutsche Juden werden in Haftung genommen für das, was eine Regierung am östlichen Mittelmeer unternimmt. Wenn das kein Israel-bezogener Judenhass ist, was bitte soll es sonst sein? Vielleicht Antiimperialismus für Vollidioten?

Es ist nicht so, als würden die Bundesregierung und der Staat dieser Entwicklung tatenlos zusehen. Sie drohen, sie strafen ab, sie schimpfen und sie appellieren. Der Erfolg solcher Interventionen ist gering. Doch der Einfluss des Staats auf das Denken seiner Bürger ist bekanntlich generell begrenzt.

Kein Zeichen der Empathie

Das Problem sind nicht alleine die Judenhasser, seien es nun arabische Migranten, deutsche Rechtsradikale oder irregeleitete angebliche Linke. Das Problem ist die schweigende Mehrheit. Von ihr ist kein Zeichen der Empathie für die Bedrohten zu hören. Für sie gehören Juden offenbar nicht zu den Menschen, deren Leben und Würde schützenswert ist.

Der Zulauf zu judenfreundlichen Demonstrationen blieb weitgehend auf die selbst Betroffenen beschränkt. Der deutsche Michel sitzt lieber hinter dem warmen Ofen und ängstigt sich vor dem Flächenbrand im Nahen Osten und steigenden Benzinpreisen. Es ist zum Verzweifeln. Nicht nur für Juden.

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taz-Autor
Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024
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12 Kommentare

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  • Nach den Registrierungen von RIAS und Claim sind in Deutschland in den letzten Monaten sowohl antijüdische wie auch antimuslimische Gewalttaten angestiegen, siehe die folgenden Studien:

    report-antisemitis...esbericht_2023.pdf

    www.claim-allianz....3_claim.pdf?x59264

    Die Aggressions- und Gewaltkategorien sind etwas unterschiedlich. So wird beim RIAS-Report unter "verletzendem Verhalten" keine physische Gewalt verstanden, dagegen beim Claim-Report sehr wohl.

    • @Uns Uwe:

      Ihre zitierten Studien beziehen sich jeweils auf 2023 und nicht auf die letzten Monate.

      Und man sollte auch im Hinterkopf behalten das die Gruppe der Muslime in Deutschland mit knapp 5,5 Millionen Personen (2020) de.statista.com/st...schland-seit-1945/ erheblich größer ist als die Gruppe Juden und Jüdinnen, welche mit 90.478 Personen (2023) de.statista.com/st...eit-dem-jahr-2003/ erfasst ist.

      Aber in den ersten 3 Quartalen 2023 hätte ich 1180 antimuslimische Vorfälle zu 1940 antisemitischen und dann im letzten Quartal 705 antimuslimische zu 2842 antisemitischen.

  • Der deutsche Michel hat sicher Empathie für die Menschen im Nahen Osten.

    Das Problem ist nur, dass er seine Empathie nicht selektiv auf die Israelis anwenden kann. Er empfindet sie dann auch für die Menschen in Gaza.

    • 6G
      698967 (Profil gelöscht)
      @noname0815:

      Aber das ist doch möglich und gleichzeitig kann man sich gegen Antisemitismus hier in Deutschland engagieren. Abgesehen davon haben unsere jüdischen Mitmenschen gar nichts mit dem Krieg im Nahen Osten zu tun. Vielleicht lesen Sie den Kommentar nochmal.

  • Ganz pragmatisch kann jede Person sich eine Kippa auf den Kopf setzen und den damit verbundenen Alltag selbst erleben.

    • @realnessuno:

      Wenn das so viele täten, dass es normal wirkt, würde man zumindest dieses Erkennungsmerkmal entkräften.



      Es ist tatsächlich eine gute Idee von Dir.

  • Ihr wisst alle, dass es den Judenhass seit dem Mittelalter gibt. Bis heute hat sich nichts davon bewahrheiten und ich wundere mich, dass junge Menschen dem verfallen. Es ist ein Glaube und ihm werden so viele Zugeschrieben. Jeder, der nur halbwegs denken kann, sollte kein Verständnis für den Judenhass haben.



    In einigen Gesprächen höre ich immer wieder, dass man Israel nicht mag, dass man dessen Oberhaupt Netanjahu nicht mag. Wie kommt man dazu dies mit dem Glauben zu vereinen? Wie kommt man dazu dies auf hier lebende Juden zu übertragen. Das muss doch jedem denkenden Menschen auffallen.

  • Was meinen Sie mit schweigender Mehrheit? Sowohl auf der Straße, aber auch in der medialen Wirklichkeit wird nicht geschwiegen, sondern lebhaft diskutiert und Positionen bezogen. Ich sehe keine schweigende Mehrheit, sondern eher eine schweigende Minderheit. Ich habe noch nie in Deutschland so einen lebhaften und vielfältigen Diskurs über Antisemitismus usw. erlebt wie heute. Auch der Kampf gegen oder die Überwindung von Antisemitismus war noch nie so dominant wie heute. Auch das Verständnis für die (grob) arabische Perspektiven war noch nie so dominant. Ihre These kann ich nicht teilen. Überzeugt mich nicht....

    • @c. F:

      Wenn Sie mal eine lebhafte Diskussion erleben wollen, dann empfehle ich Ihnen einen kleinen Spaziergang mit Kippa durch den Norden von Neukölln.

      Ordnen Sie am besten vorher ihre Angelegenheiten. Helfen wird Ihnen dort keiner.

  • Lieber Klaus Hillenbrand, Sie beklagen die schweigende Mehrheit. Die sei das eigentliche Problem. Ich gehöre zur schweigenden Mehrheit. Wie kann ich mich von dem Vorwurf, ich sässe nur hinter dem warmen Ofen, befreien? Reicht es, wenn ich sage, dass mich die Nachrichten bedrücken, dass da auch die eine oder andere Träne geflossen ist und ich mir wenig sehnlicher wünsche, als Frieden in Nahost, gleichermaßen für Alle dort? Dass ich es nicht verstehe und nicht befürworte, dass Menschen auf der Straße oder wo auch immer angegriffen werden aufgrund von welchem Grund auch immer?



    Das ist in meiner Gegenwart noch nicht passiert, sonst hätte ich unter Beweis stellen können, in dem ich mich vor die betroffene Person stelle, oder zumindest die Polizei rufen können. Die Möglichkeit, in einer Demokratie Zeichen zu setzen, sind vor allem Demonstrationen. Allerdings möchte ich weder hinter einer Palästinaflagge laufen, auch nicht hinter der Israels, noch hinter den Bannern des BSW. Es ist nämlich schlicht nicht einfach, in dieser komplexen und verfahrenen Situation etwas anderes zu sagen als: hört auf zu schiessen und redet miteinander! Und in Deutschland: bleibt friedlich und achtet das Recht!

    • @JKPotsdam:

      Wann haben Sie das letzte Mal einem jüdischen Menschen in Deutschland Mut zugesprochen?

      Wann waren Sie das letzte Mal in einem israelischen Restaurant?

      Haben Sie schon mal eine Synagoge besucht, abgesehen von der Schulzeit?

      Es gibt viele kleine Dinge, die man tun könnte, wenn man wollte.

  • Der schweigenden Mehrheit war das Geschehen jenseits des eigenen Vorgartens meist egal. Ich bin hier in Sachsen von einer schweigenden Mehrheit umgeben, die den 90er Jahre als den goldenen und sicheren Jahre nachtrauert. Das die Baseballschlägerjahre für alle Minderheiten die Hölle waren, interessiert da Null, man war ja nicht betroffen. Auf diese Mehrheit würde ich mich in keinem Fall verlassen wollen.