Medizinprüfer über Implantate: „Industrie verhindert Patientennutzen“
In Europa kommen weiter Medizinprodukte auf den Markt, die anderswo wegen ihres Risikos abgelehnt werden, rügt Deutschlands oberster Medizinprüfer Jürgen Windeler.
taz: Herr Windeler, der einstige König der Brustimplantate ist zu vier Jahren Haft plus Geldbuße verurteilt worden. Ist die Welt der künstlichen Prothesen, Silikonkissen und Gelenke damit sicherer geworden?
Jürgen Windeler: Jedenfalls gibt es diese gefährlichen Produkte nun nicht mehr. Das grundsätzliche Problem ist dadurch aber nicht beseitigt. Weiterhin wird bei Arzneimitteln und Medizinprodukten mit zweierlei Maß gemessen werden.
Wovor müssen sich Patienten fürchten?
Nach wie vor werden neue Medizinprodukte vor allem einer technischen Prüfung unterzogen. Die Frage, ob sie Patienten mehr nutzen als schaden, spielt in Europa nur eine untergeordnete Rolle. Und so kommen hier Produkte auf den Markt, die in anderen Ländern wegen ihres Risikos oder nicht bewiesener Vorteile abgelehnt werden.
Die EU verschärft doch aber gerade ihre Verordnung zu dauerhaft im Körper verbleibenden Implantaten?
Ja, sie zieht einige Lehren aus dem PIP-Skandal. Aber diese betreffen weiterhin vorrangig die technische Seite. Wichtige Verbesserungsvorschläge, die den Patientennutzen im Auge hatten, hat die Industrie in Brüssel erfolgreich verhindert.
Der 56-Jährige ist Professor für Medizinische Biometrie und Epidemiologie. Er leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) in Köln.
Was wäre nötig, um wirksamen Schutz für Patienten und eine bessere Herstellerhaftung sicher zu stellen?
Patienten sollten sicher sein können, dass sie Produkte bekommen, die ihnen mehr gesundheitliche Vorteile als Nachteile verschaffen. Sie sollten jedenfalls so sicher sein können wie bei Arzneimitteln. Das Produkt muss einem Patienten schnell zuzuordnen sein, falls Probleme auftreten. Und die Bewertungsergebnisse bei der Zertifizierung mit dem so genannten CE-Prüfsiegel müssen offen gelegt werden.
An wessen Widerstand scheitert das?
An wirtschaftlichen Interessen. Der „Standort Deutschland“ mit Arbeitsplätzen und Exportchancen hat hier Vorfahrt.
Haben Sie Hoffnung, dass eine große Koalition den Mumm hat, sich im Sinne der Verbraucher mit der Industrie anzulegen?
Ja, durchaus. Im Koalitionsvertrag ist zu erkennen, dass die Politik das Problem erkannt hat und sich vorgenommen hat, die Dominanz der wirtschaftlichen Sichtweise nicht mehr gelten zu lassen. Hier wird sich in der nächsten Monaten zeigen, ob in Deutschland Besseres möglich ist als in der EU.
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