Medizinische Versorgung im Gazastreifen: Albtraum Geburtstermin
Im Gazastreifen gebären im Schnitt 180 Frauen pro Tag. Hilfsorganisationen berichten von zerstörten Kreißsälen und untergewichtigen Neugeborenen.
„Ich konnte die ganze Zeit an nichts anderes denken als an die Kinder, die ich zu Hause zurücklassen musste“, erinnert sie sich an jene Nacht zurück. Denn die israelische Armee hatten gerade gewarnt, dass ein Ort in der Nähe der Schule, in der sie mit ihren Kindern untergebracht war, evakuiert werden müsse, weil sie dort angreifen wollte.
Hanas Odyssee in das Krankenhaus ist kein Einzelfall. „Viele Frauen gebären auf dem Weg zur Klinik, weil es so kompliziert ist, sich von einem Ort zum anderen zu bewegen. Manche bringen ihre Babys in Zelten oder auf der Straße zur Welt“, berichtet Nour Beydoun, die vom jordanischen Amman aus die Hilfsorganisation Care in Fragen berät, die Frauen in Notsituationen im Gazastreifen betreffen. Manche schlügen aus diesem Grund schon vor der Geburt ihre Zelte vor den Krankenhäusern auf, berichtet sie im Gespräch mit der taz.
Wenige Krankenhäuser, völlig überlastet
Eine Geburt ist normalerweise ein freudiges Ereignis. Die Familie und die Eltern kommen zusammen, machen Fotos vom Neugeborenen. Zu Hause wurde alles sauber gemacht, um der Mutter und dem Baby eine sichere Umgebung zu gewährleisten. Ganz anders im Gazastreifen, wo aktuell schätzungsweise 50.000 Frauen schwanger sind. Gab es vor dem Krieg noch 35 größere und kleinere Krankenhäuser, stehen jetzt nur noch 16 vollkommen überlastete Kliniken zu Verfügung.
Der Albtraum endet nicht mit dem Weg ins Krankenhaus. „Es mangelt an allem in den wenigen noch funktionierenden Krankenhäusern: an Medizin, Maschinen, aber auch an spezialisiertem Personal“, zählt Beydoun auf. Auch Narkosemittel fehlten. „Das führt dazu, dass manche Kaiserschnitte ohne Narkose durchgeführt werden müssen“, sagt sie.
Dazu komme, dass viele Geburten von Komplikationen begleitet seien. „Wir haben im Gazastreifen durchschnittlich 180 Geburten pro Tag. 15 Prozent davon gehen mit Komplikationen einher, die zusätzliche medizinische Unterstützung brauchen. Die medizinischen Teams vor Ort schätzen, dass sich die Zahl der Fehl- und Totgeburten seit dem 7. Oktober verfünffacht hat“, versucht Beydoun die Dimension zu erklären.
Schlecht ernährte Mütter, entwicklungsverzögerte Babys
Oft sei der Grund dafür, dass die werdenden Mütter unterernährt seien. „Der Ernährungsstatus vieler der Frauen ist unglaublich schlecht. Sie haben nicht genug Nährstoffe wie Eisen, Calcium und Zink.“ Das könne zu Fehl- und Totgeburten, auch zu untergewichtigen Neugeborenen und zu Verzögerungen bei deren Entwicklung führen.
Das bestätigt auch Joanne Perry von Ärzte ohne Grenzen, die in den letzten Wochen mitgeholfen hat, in dem zuvor von der israelischen Armee vollkommen zerstörten Nasser-Krankenhaus in Chan Junis wieder einen Kreißsaal aufzubauen. Dort entbinden jetzt wieder bis zu 30 Frauen am Tag. „In unserem neuen Kreißsaal erleben wir zahlreiche Frühgeburten und sehen viele untergewichtige Neugeborene“, berichtet sie per Sprachnachricht.
Die Kommunikation nach Chan Yunis ist schwierig, und sie hat neben ihrer Arbeit nur wenig Zeit. Viele der Mütter seien anämisch, hätten also zu wenig rote Blutkörperchen oder zu wenig roten Blutfarbstoff. Das sei ein direktes Ergebnis ihrer Lebensbedingungen im Krieg und ihrer mangelhaften Ernährung, führt sie weiter aus.
Unsicherheit als ständiger Begleiter
Doch selbst wenn unter der Geburt alles gut läuft und Mutter und Kind wohlauf sind, bleibt die Angst, was geschieht, wenn die Mütter mit ihren Neugeboren meist schon nach zwei bis drei Stunden die Klinik wieder verlassen müssen, um anderen Platz zu machen. Die Unsicherheit im Kreißsaal wird dann quasi ersetzt durch die Unsicherheit des Lebens im Krieg.
„Wenn man die Explosionen in der Nähe hört, haben die Mütter der Neugeborenen sofort alles Mögliche im Kopf: Es könnte mehr Angriffe geben. Ihr Baby oder sie selbst könnten zu Schaden kommen. Der Familie könnte etwas zustoßen, ihr Haus könnte jederzeit zum Ziel werden“, berichtete Alaa Balur der Nachrichtenagentur Reuters von ihren eigenen Ängsten, kurz nachdem sie ein Baby zur Welt gebracht hatte.
Leben in Zelten und immer in Angst
Wer in ein Haus zurückkehren kann, hat noch Glück. „Die Mehrheit der Bevölkerung lebt heute in Zelten, nachdem 70 Prozent der Gebäude im Gazastreifen zerstört oder beschädigt sind“, sagt Joanne Perry von Ärzte ohne Grenzen. Die meisten Mütter gehen zurück in ihre Zelte und schlafen mit ihren Neugeborenen auf der Erde – eine Umgebung, die weder steril noch sicher ist. Hinzu kommt immer die Angst, dass ihre Gegend zur Kampfzone erklärt wird und sie von einem Moment zum nächsten ihr Zelt verlassen müssen.
Aber in all der Not gibt es auch glückliche Momente. Nachdem der Kreißsaal im Nasser-Krankenhaus wieder aufgebaut war, kam das erste Baby durch einen Kaiserschnitt zur Welt. „Den Mitarbeitern kamen die Tränen“, erzählt Perry. Das Neugeborene war ein Symbol, dass sie es geschafft haben, den Kreißsaal wieder funktionstüchtig zu machen. „Neben all dieser Zerstörung, die wir erleben“, sagt Perry, „war das der Beweis, dass das Leben weitergeht.“
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