Medizinische Leitlinie für Geburt: Weniger Stress im Kreißsaal

Erstmals liegt eine medizinische Leitlinie für Spontangeburten vor. Unter anderem sollen Gebärende mehr Zeit bekommen.

Eine Zeichnung von einem Storch mit Baby an der Eingangstür zu einem Kreißsaal

Tür zum Kreißsaal in einem Krankenhaus in Eberswalde Foto: Hans Wiedl/dpa/picture alliance

BREMEN taz | Frauen sollen unter der Geburt „mit Wertschätzung und Achtung behandelt werden“ und unmittelbar vor der Austrittsphase „nicht vom geburtshilflichen Personal allein gelassen werden“. Vaginale Untersuchungen sollen nur gemacht werden, wenn sicher ist, dass diese „hilfreiche Informationen für den weiteren Ablauf“ liefern. So steht es in einer im Januar veröffentlichten medizinischen S3-Leitlinie. Erstmals gibt es damit evidenzbasierte Vorgaben nach höchstem wissenschaftlichen Standard für das Handeln von Ärz­t*in­nen und Hebammen bei Spontangeburten zwischen der 37. und 42. Schwangerschaftswoche.

Bisher, so heißt es in der Einleitung, seien „mitunter tradierte Maßnahmen unreflektiert und unter Verzicht einer wissenschaftlichen Grundlage über Generationen weitergegeben“ worden. Das soll sich nun ändern. Fünf Jahre werteten Ver­­tre­te­r*in­nen der beteiligten Organisationen unter Federführung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe die Literatur aus, die sich mit allen Fragen rund um die Spontangeburt beschäftigen. Das beginnt bei der Beratung über den Geburtsort und endet bei der Versorgung des Neugeborenen beim Verdacht auf Sepsis oder Infektion.

Aber neben detaillierten Verfahrensbeschreibungen etwa dazu, wann es indiziert ist, die Blutwerte des Fötus zu überprüfen oder unter welchen Umständen welcher Dammschnitt angezeigt ist, finden sich Sätze wie die eingangs zitierten. Diese zielen auf die Grundsätze des geburtshilflichen Handelns, das in Zukunft „frauzentriert“ sein und eine „selbstbestimmte Geburt“ fördern soll.

„Das klingt selbstverständlich, ja“, sagt dazu Rainhild Schäfers, Leitlinienkoordinatorin der Gesellschaft für Hebammenwissenschaft, „aber in der Praxis ist es das nicht immer“. Umgesetzt werden muss die Leitlinie nicht – sie ist rechtlich nicht bindend, – aber, sagt Schäfers, sie könne Diskussionen befördern und als Orientierungshilfe dienen.

Einerseits für Eltern, die eine für Laien verständliche Übersetzung bekommen sollen, andererseits für Hebammen und Ärz­t*in­nen – aber auch für Gesundheitspolitiker*innen. Denn die Leitlinie formuliert teils hohe Ansprüche, die angesichts der Personalnot in den Kliniken oft nicht umgesetzt werden können – wie die 1:1-Betreuung durch eine Hebamme.

Leitlinie nicht verpflchtend

„Mit der Leitlinie haben Kliniken jetzt etwas in der Hand, um Forderungen an die Politik zu stellen“, sagt Schäfers, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule für Gesundheit Bochum. „Die können jetzt sagen, dass sie mit ihrem Personal nicht evidenzbasiert arbeiten können.“ Evidenzbasiert heißt in diesem Fall, dass nicht nur der aktuelle Forschungsstand abgebildet wird, sondern auch die Expertise geburtshilflicher Fachpersonen und Wünsche und Präferenzen der Pa­ti­en­t*in­nen mit einbezogen werden.

Die Elterninitiative Motherhood feierte die neue Leitlinie zu Recht als „bahnbrechend“ ab

Eine Besonderheit dieser Leitlinie ist, dass neben mehreren ärztlichen Fach- und Berufsverbänden mit der Elterninitiative Motherhood e. V. eine Laienorganisation beteiligt war, die nicht dem Selbsthilfespektrum wie etwa ein Frühgeborenen-Verband zuzurechnen ist, sondern die Interessen von „Normal-Gebärenden“ vertritt.

Motherhood feierte die Leitlinie zu Recht als „bahnbrechend“ ab und freute sich insbesondere darüber, dass die „heilige Kuh der technischen Überwachung geschlachtet“ wurde, wie es in einer Pressemitteilung hieß. Gemeint ist damit, dass die Leitlinie davon abrät, routinemäßig bei der Aufnahme in der Klinik und während der Geburt die Mutter an den Herzton-Wehenschreiber anzuschließen, bekannt als CTG.

Es sei nicht nachweisbar, dass das CTG – das die Gebärende für eine halbe Stunde immobilisiert – Vorteile gegenüber dem systematischen Abhören mittels Hörrohr oder Dopton biete, heißt es in der Leitlinie. Zudem können beim Schreiben und Interpretieren des CTG Fehler gemacht werden. Ein als pathologisch bewertetes CTG ist laut dem „Qualitätsbericht Geburtshilfe“ von 2017 der zweithäufigste Grund für einen Kaiserschnitt. Daher heißt es auch folgerichtig in der Leitlinie: „Es sollen keine Entscheidungen während der Geburt allein auf Grundlage des CTGs getroffen werden.“

In einigen Kreißsälen habe dies für Aufregung gesorgt, sagt die Wissenschaftlerin Rainhild Schäfers, die selbst 21 Jahre als Hebamme gearbeitet hat. „Das wurde von vielen so aufgefasst, dass das CTG gar nicht mehr eingesetzt werden soll.“ Tatsächlich steht in der Leitlinie, dass nur unter bestimmten Umständen darauf verzichtet werden kann, wenn etwa die 1:1-Betreuung durch eine Hebamme gewährleistet ist.

Mehr Zeit für Gebärende

Dabei habe es anders als bei anderen Punkten zwischen den Ver­tre­te­r*in­nen der Fachgesellschaften über das CTG gar keine große Diskussion gegeben. „Da habe ich mich gefragt, welchen Klischees ich über andere Berufsgruppen anhänge“, sagt Schäfers. „Erwartet hatte ich von den Ärz­t*in­nen heftigen Widerstand, stattdessen hieß es:,Ja Gott, wenn das die Evidenz ist …'“

Die gute Zusammenarbeit innerhalb der Leitlinienkommission sei für sie eine besonders positive Erfahrung gewesen. Zum ersten Mal sei eine geburtshilfliche Leitlinie unter gemeinsamer Federführung von Ärz­t*in­nen und Hebammen entstanden.

Eine Abkehr von „Grabenkämpfen“, wie Schäfers es nennt. Ein Beispiel dafür wäre etwa eine Pressemitteilung vom Berufsverband der Frau­en­ärz­t*in­nen und der Gesellschaft für Geburtshilfe aus dem Jahr 2013. In dieser hieß es: „Die Stunde der Geburt ist die gefährlichste Zeit im Leben jedes Menschen“. Damit sollte begründet werden, warum Geburten ausschließlich im Krankenhaus stattfinden dürfen, wo ärztliche Hilfe schnell erreichbar ist.

Die Frage nach dem Geburtsort habe auch während der Erarbeitung der Leitlinie die heftigsten Diskus­sio­nen nach sich gezogen, sagt Schäfers. Dabei ließen sich die Daten zur klinischen und außerklinischen Geburtshilfe derzeit gar nicht vergleichen – und daher sei es auch nicht möglich zu sagen, wie sicher die Klinikgeburt im Vergleich zu Geburtshaus oder Hausgeburt sei. „Wir brauchen hier endlich einheitliche Indikatoren.“

Ein weiterer zentraler Punkt der Leitlinie sei für sie, dass die Geburtsphasen erstmals klar definiert worden seien. Umbenannt wurde dabei die letzte Phase: Sie soll nicht mehr „Austreibungsphase“ heißen, weil das negativ konnotiert sei, sondern neutraler „Austrittsphase“. Und während Lehrbücher noch festlegen, dass die Austrittsphase bei Erstgebärenden höchstens eine Stunde und bei Mehrgebärenden eine halbe dauern darf, unterscheidet die Leitlinie zwischen passiver und aktiver Austrittsphase – und lässt Gebärenden damit mehr Zeit.

Zu einem großen Teil wurden die Empfehlungen des britischen National Institute for Health and Care Excellence (Nice) übernommen, die erstmals 2007 veröffentlicht wurden. Nice untersteht dem Gesundheitsministerium und wird von diesem finanziert. In Deutschland ist die Arbeit an Leitlinien hingegen überwiegend „Ehrenamt“, sagt Schäfers, was die Bereitschaft zu den besonders arbeitsaufwendigen S3-Leitlinien negativ beeinflusst. In diesem Fall habe das Bundesministerium für Gesundheit einen Teil der Recherchen finanziert. Parallel hatten teils die gleichen Personen an einer im Sommer veröffentlichten S3-Leitlinie zum Kaiserschnitt gearbeitet, diese hatte das Gesundheitsministerium mitfinanziert.

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