Medizin im Katastrophenfall: „Triage-Gesetz“ beschlossen
Nach einer letzten Debatte im Bundestag wird ein Gesetz beschlossen, das Ärzte und Menschenrechtsaktivisten aufbringt. Es geht um Leben und Tod.
Mit der Triage-Regelung im Infektionsschutzgesetz soll für den Fall vorgesorgt werden, dass intensivmedizinische Ressourcen nicht für alle Patient:innen ausreichen. In der Pandemie standen einzelne Krankenhäuser bereits kurz vor diesem Katastrophenfall. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gesetzgeber nach einer Verfassungsbeschwerde aufgefordert, dafür zu sorgen, dass bei einer notwendigen Zuteilung zu knapper Behandlungsplätze Menschen mit Behinderung und andere Gruppen nicht benachteiligt werden.
Inhalt Als „Triage-Gesetz“ wird eine nun beschlossene Regelung im Infektionsschutzgesetz bezeichnet, die die Verteilung zu knapper intensivmedizinischer Ressourcen im Pandemiefall regeln soll. Alleiniges Kriterium für die Entscheidung, wer freie Behandlungsplätze erhalten soll, wenn es davon zu wenige gibt, ist demnach die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“. Eine Benachteiligung wegen einer Behinderung, des Grades der Gebrechlichkeit, des Alters, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung soll explizit vermieden werden. Das Gesetz regelt außerdem Einzelheiten zum Verfahren der Zuteilung wie das Vier-Augen-Prinzip, Meldepflichten und eine Evaluierung.
Kritik Ärzt:innen geht das Gesetz zum Teil nicht weit genug. Sie kritisieren, dass die Frage, wer noch freie Behandlungsplätze zugeteilt bekomme, in Hochlastsituationen kaum relevant sei und dass sich die Überlebenswahrscheinlichkeit oft erst bei bereits begonnener Intensivbehandlung abschätzen ließe. Um möglichst viele Menschenleben zu retten, sei daher auch eine Neuverteilung bereits belegter Behandlungsplätze nötig (sog. Ex-post-Triage). Behinderten- und Menschenrechtsaktivist:innen sehen dagegen auch in der jetzt beschlossenen Regelung einen Verstoß gegen die Menschenwürde und den Verfassungsgrundsatz, dass ein Leben nicht mehr wert sei als ein anderes. Gerade Menschen mit Behinderung würden durch das Zuteilungskriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit benachteiligt.
In der Debatte im Bundestag konnte man zunächst den Eindruck gewinnen, dass zumindest die Regierungsfraktionen sicher sind, für diesen Auftrag eine geeignete Lösung gefunden zu haben. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) betonte, das Gesetz stelle sicher, dass Vorerkrankungen und Behinderungen keine Rolle spielten, wenn Intensivbetten tatsächlich knapp werden sollten in einer erneuten Pandemie. Es sei ein gutes Gesetz zu ethisch höchst schwierigen Fragen, so die rechtspolitische Sprecherin der FDP-Fraktion, Katrin Helling-Plahr.
„Beste Lösung für ein Dilemma“
Das Gesetz vereine die Forderungen nach der Rettung möglichst vieler Menschenleben im Katastrophenfall und dem Schutz vor Diskriminierung, war sich Martina Stamm-Fibich, Patientenbeauftragte der SPD-Fraktion, sicher. Es sei „die beste Lösung für ein Dilemma, das niemals zur Zufriedenheit aller aufgelöst werden kann“, so Stamm-Fibich.
Till Steffen, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion, verwies darauf, dass das im Gesetz gewählte Kriterium für eine Zuteilung zu knapper Behandlungsressourcen, die kurzfristige und aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit, objektivierbarer sei als andere Lösungen.
Die Oppositionsparteien nahmen dagegen die Kritik auf, die zuvor auch schon Ärzt:innen, Behinderten- und Menschenrechtsaktivist:innen geäußert hatten. Der ehemalige Bundesbehindertenbeauftragte Hubert Hüppe (CDU) verwies darauf, dass sowohl Behindertenselbstvertretungen als auch Mediziner:innen nicht ausreichend beteiligt worden seien am Gesetzgebungsverfahren.
Der Sprecher für Inklusion und Teilhabe der Linksfraktion, Sören Pellmann, betonte die Tragweite des Gesetzes: „Im weltweit ersten Triage-Gesetz geht es um nichts anderes als um Leben und Tod.“ Pellmann brachte vor, dass die Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder auf schwerwiegende Diskriminierungsrisiken des Gesetzes hingewiesen hatten. Er verlangte eine Ablehnung des Gesetzentwurfs, eine Aufhebung des Fraktionszwangs und eine breite gesellschaftliche Debatte. Das hatte in den Tagen vor der Abstimmung auch das Deutsche Institut für Menschenrechte gefordert.
Bei der namentlichen Abstimmung stimmten schließlich zwar ausreichend Abgeordnete für das Gesetz. Aber mit 366 Ja-Stimmen, 284 Nein-Stimmen und 5 Enthaltungen war das Ergebnis längst nicht so eindeutig, wie es die Fraktionsstärken der Regierungsparteien hätten vermuten lassen. Mehrere Abgeordnete der Grünen und der FDP stimmten dagegen.
Sowohl Ärzt:innen als auch Behindertenrechtsaktivist:innen rechnen nun mit einem erneuten Gang vors Verfassungsgericht.
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