Kritik an Gesetz für Katastrophenmedizin: „Purer Etiketten­schwindel“

Das jüngst beschlossene „Triage-Gesetz“ gehört vors Verfassungsgericht, sagt Behindertenrechtsaktivist Constantin Grosch. Er nennt Alternativen.

Ein Rettungswagen der Berliner Feuerwehr rast mit Balulicht auf einer Autobahn

Für Constantin Grosch werden Menschen mit Behinderung durch die neue Triage-Regelung weiterhin diskriminiert Foto: Tobias Seeliger/snapshot

taz: Herr Grosch, am Donnerstag hat der Bundestag trotz vieler Bedenken vonseiten Betroffener das „Triage-Gesetz“ beschlossen. Können Sie damit leben?

Constantin Grosch: Das war kein guter Tag. Aber immerhin ist das Ergebnis relativ schlecht ausgefallen für die Ampelkoalition: Gerade die Abgeordneten, die sich seit Jahren um Behindertenpolitik kümmern, haben dagegen gestimmt. Das zeigt auch, dass dem eigentlichen Zweck dieses Gesetzes – nämlich dem Schutz von Menschen mit Behinderung vor Diskriminierung – nicht entsprochen wurde.

Constantin Grosch, 30, ist Insklusionsaktivist und Mitbegründer der Aktionsplattform AbilityWatch. Er war 2021 ei­ne*r der 9 Beschwerdeführer*innen, die beim Bundesverfassungsgericht erfolgreich eine diskriminierungsfreie gesetzliche Regelung zur Triage einforderten. Grosch ist seit Oktober 2022 Landtagsabgeordneter für die SPD in Niedersachsen.

Die Be­für­wor­te­r*in­nen sagen, das Gesetz vereine die Forderung nach der Rettung möglichst vieler Menschenleben mit dem Schutz vor Diskriminierung.

Da würde ich erst einmal fragen, ob die Rettung möglichst vieler Menschen in einer Triage-Situation überhaupt das richtige Ziel ist. Bei einer großflächigen und länger andauernden Ausnahmesituation sollte unser Ziel sein, dass danach immer noch eine vielfältige Gesellschaft übrigbleibt. Das gilt nicht nur für Pandemien, sondern auch für Kriege und Naturkatastrophen. Den utilitaristischen Ansatz, dass die Menge der Überlebenden wichtiger sei als der einzelne Fall, halte ich nicht für richtig und auch nicht vereinbar mit mehreren höchstrichterlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.

Sie meinen den berühmten Fall, bei dem zu entscheiden war, ob ein entführtes Flugzeug abgeschossen werden darf, um zu verhindern, dass der Aufprall deutlich mehr Leben kostet?

Zum Beispiel. Die Richter urteilten, dass ein Leben nicht weniger wichtig ist als ein anderes und auch nicht als mehrere andere. In dem Triage-Gesetz machen wir es jetzt genau andersherum und sagen, die schiere Masse ist wichtiger als die individuelle Person? Auch das Deutsche Institut für Menschenrechte hat deutlich gemacht, dass es diesen Ansatz verurteilt.

Was bedeutet dieses Gesetz für Sie persönlich?

Ich habe wieder mehr Bedenken, falls wir in eine ähnliche Situation geraten wie mit der Coronapandemie. Laut dem Gesetz entscheidet die kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit über die Frage, wer intensivmedizinisch behandelt wird, wenn nicht alle behandelt werden können. Nun dürfte aber gerade die Überlebenswahrscheinlichkeit bei vielen Menschen mit Behinderung, mir inklusive, als geringer eingeschätzt werden als bei Menschen ohne Behinderung.

Aber das Bundesverfassungsgericht hat doch selbst die Überlebenswahrscheinlichkeit als Triage-Kriterium vorgeschlagen.

Ins Spiel gebracht wurde das Kriterium von der Ärzteschaft. Nur deshalb ist das Verfassungsgericht darauf eingegangen und hat die Überlebenswahrscheinlichkeit als ein mögliches Kriterium betrachtet. Das Gericht hat aber, anders als es die Befürworter des Gesetzes jetzt darstellen, nicht alleinig darauf abgestellt. Es hat sehr deutlich gesagt, dass die Politik hier einen großen Auslegungs- und Abwägungsspielraum hat.

Das „Triage-Gesetz“ ist eine gerade beschlossene Regelung im Infektionsschutzgesetz, die die Verteilung zu knapper intensivmedizinischer Ressourcen im Pandemiefall regeln soll.

Alleiniges Kriterium für die Entscheidung, wer freie Behandlungsplätze erhalten soll, wenn es davon zu wenige gibt, ist demnach die „aktuelle und kurzfristige Überlebenswahrscheinlichkeit“.

Eine Benachteiligung wegen Behinderung, Grad der Gebrechlichkeit, Alter, ethnischer Herkunft, Religion oder Weltanschauung, Geschlecht oder sexueller Orientierung soll explizit vermieden werden. Im Gesetz stehen außerdem das Mehr-Augen-Prinzip, Meldepflichten und eine Evaluierung.

Scharfe Kritik am Gesetz äußerten sowohl Ärzt:innen als auch Menschenrechts- und Behindertenrechtsaktivist:innen. (taz)

Was ist das Problem am Kriterium der Überlebenswahrscheinlichkeit?

Es basiert erst einmal auf Vermutungen. Und die sind selten frei von Vorurteilen. Kein Mensch, auch kein Arzt, kann sagen, wie hoch eine Überlebenswahrscheinlichkeit tatsächlich ist. Gerade Menschen mit Behinderung wissen, dass die Prognosen, die ihnen gestellt wurden, oft nicht eintreffen.

Im Gesetz wird explizit darauf hingewiesen, dass Merkmale wie eine Behinderung keine Rolle bei der Triage spielen dürfen.

Das ist purer Etikettenschwindel. Bei der Einschätzung der Überlebenswahrscheinlichkeit werden natürlich Begleiterkrankungen mitbetrachtet. Und viele Behinderungen gehen eben mit Begleiterkrankungen einher. Bei mir ist zum Beispiel das Lungenvolumen verringert. Wenn eine Diskriminierung wegen Behinderung vermieden werden soll, dann darf nicht auf die Überlebenswahrscheinlichkeit abgestellt werden.

Ärz­t*in­nen haben vorgerechnet, dass gerade Menschen mit Vorerkrankungen und Beeinträchtigungen von einer Triage anhand der Überlebenswahrscheinlichkeit profitieren.

Ich bezweifle, dass sich aus diesen Simulationen eine generelle Handlungsempfehlung für Triage-Situationen ableiten lässt. Es mag zum Beispiel sein, dass bei Covid-19-Erkrankten Intensivbetten schneller wieder frei werden, wenn zuerst die Menschen mit der höchsten Überlebenswahrscheinlichkeit behandelt werden. Es mag auch sein, dass das Menschen mit Vorerkrankungen zugutekäme, die ja besonders häufig intensivmedizinisch behandelt werden müssen. Bei einer Erkrankung aber, die ohne Behandlung viel schneller zum Tod führt als Covid-19, wäre die Rechnung eine ganz andere.

Vielen Ärz­t*in­nen geht das Gesetz nicht weit genug. Sie fordern, dass Menschen die intensivmedizinische Behandlung wieder entzogen werden kann, wenn Pa­ti­en­t*in­nen mit besserer Prognose kommen – die sogenannte Ex-post-Triage. Nur so könne die Zahl der Überlebenden signifikant erhöht werden.

Um das festzuhalten: Wir reden hier nicht über Menschen, die de facto keine Überlebenswahrscheinlichkeit mehr haben und trotzdem weiterbehandelt werden. Diese Menschen haben eine Chance, zu überleben. Ihnen die Behandlung wieder zu entziehen, halte ich für zutiefst inhuman. Wir sind ehrlich froh, dass zumindest die Ex-post-Triage aus dem Gesetz rausgehalten wurde.

Aber irgendwie müssen Ärz­t*in­nen doch entscheiden, wenn es zu viele Pa­ti­en­t*in­nen und zu wenige Behandlungsplätze gibt.

Da gibt es aber noch andere Möglichkeiten. Ein faires Kriterium darf sich nicht an den Merkmalen der Person selbst orientieren und nicht von Vorurteilen beeinflussbar sein.

Welche Alternativen gibt es denn?

Es gibt das First-come-first-serve-Kriterium: Die Person, die zuerst eingeliefert wird, wird behandelt. Beim reinen Dringlichkeitskriterium bekommt derjenige die Behandlung, der sie gerade am dringendsten braucht. Das Zufallsprinzip, also eine Art Losverfahren, ist rein theoretisch das gerechteste.

Was ist Ihr Favorit?

Da möchte ich mich überhaupt nicht festlegen. Man muss ehrlicherweise sagen: Es gibt kein Kriterium, bei dem alles toll ist. Alle haben Vor- und Nachteile. Aber wir haben hier einen Gesetzentwurf, der sich überhaupt nicht mit den Alternativen beschäftigt hat. Wir haben eine Bundestagsdebatte, in der Alternativen quasi gar nicht ins Spiel gebracht wurden. Und wir haben auch bei der Ärzteschaft einen absoluten Unwillen gesehen, sich mit Alternativen auseinanderzusetzen.

Vielleicht fehlt auch öffentliches Interesse an der Debatte, Druck auf die Politik?

Ganz sicher. Das liegt zum Teil daran, dass diese Regelung im Infektionsschutzgesetz versteckt wurde. Man musste sich schon sehr bewusst damit beschäftigen, um überhaupt von den Einzelheiten zu erfahren.

Warum ist es den Behindertenselbstvertretungen nicht gelungen, ihre Sicht ins Gesetz einzubringen?

Leider ist es überhaupt nicht überraschend, dass Menschen mit Behinderung – ohne deren Intervention es dieses Gesetz ja gar nicht gäbe – nicht angemessen beteiligt wurden. Die Fristen für Stellungnahmen waren extrem kurz – gerade wenn man sich vor Augen führt, dass die meisten von uns ehrenamtlich arbeiten und Unterstützung bei der Ausübung ihrer partizipativen Rechte benötigen. Das gesamte Verfahren entsprach nicht den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention für die Beteiligung von Menschen mit Behinderung am Gesetzgebungsverfahren. Das haben auch die Stellungnahmen der Behindertenbeauftragten des Bundes und der Länder noch einmal sehr deutlich gemacht.

Die beschlossene Triage-Regelung bezieht sich ausschließlich auf eine pandemische Großlage. Die Coronapandemie gilt als ausgestanden, wie relevant ist das Gesetz überhaupt?

Relevant ist zum einen, ob hier ein Gesetz beschlossen wurde, das gegen Verfassungsgrundsätze verstößt. Diese Frage muss beantwortet werden, auch wenn die Regelung nie zur Anwendung kommen sollte. Das Zweite ist, dass zwar die Coronapandemie hoffentlich in ihrer Dramatik vorbei ist. Aber ich teile die Einschätzung Karl Lauterbachs, dass wir in eine Zeit eingetreten sind, in der wir häufiger mit Pandemien zu tun haben werden. Insofern weiß niemand, wann wir wieder in eine Situation geraten, in der Behandlungskapazitäten ernsthaft knapp werden. Und es muss gesagt werden, dass diese Kapazitäten auch außerhalb einer Pandemie immer knapper werden. Es gibt schon jetzt Triage-Situationen zum Beispiel durch lange Wartezeiten. Auch die müssen geregelt werden.

Wie geht es jetzt weiter?

Wir werden uns mit unseren rechtlichen Beratern in den nächsten Wochen zusammensetzen. Ich gehe aber schon jetzt davon aus, dass wir bis Ende des Jahres erneut nach Karlsruhe gehen, weil wir davon überzeugt sind, dass dieses Gesetz mit der Verfassung nicht vereinbar ist.

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