Machtwechsel in Großbritannien: Keir Starmer wird Premierminister
Der britische Labour-Chef tritt sein Amt an, die Konservativen sind am Boden zerstört. Aber im Detail sind die Ergebnisse durchwachsen.
Er schüttelt unzählige Jubelhände in der Menschenmenge vor 10 Downing Street, tritt schließlich vor die berühmte schwarze Tür und sagt nüchtern: „Good Afternoon.“
Eine neue Ära hat im Vereinigten Königreich beginnen. Die Konservativen sind abgewählt, mit dem größten Wahldebakel ihrer fast 200jährigen Geschichte. Labour ist zurück mit einer der größten absoluten Mehrheiten der Parlamentsgeschichte.
„Jetzt hat unser Land eindeutig für Wandel gestimmt, für nationale Erneuerung und für eine Rückkehr der Politik in den Dienst der Öffentlichkeit“, ruft Premierminister Keir Starmer in seiner Antrittsrede. „Eure Regierung sollte jeden einzelnen Menschen in diesem Land mit Respekt behandeln“, mahnt er und guckt wieder gewohnt streng die schweigenden Labour-Wahlhelfer vor ihm an, die ihm eben noch scharenweise um den Hals gefallen sind. Ernste Zeiten erfordern ernste Chefs.
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Weniger Stimmen für Labour als unter Corbyn
Denn dieser Labour-Wahlsieg ist auf dünnem Eis gebaut. Weit entfernt scheint der Triumph von 1997, als Labour mit Tony Blair an der Spitze 13,5 Millionen Stimmen, 43 Prozent und 418 Sitze im Unterhaus holte, um dann dreizehn Jahre lang zu regieren. Dieses Jahr gibt es bloß 9,7 Millionen Stimmen und weniger als 34 Prozent. Sogar Jeremy Corbyn hatte bei seinem Wahldebakel 2019 mehr Stimmen für Labour erhalten.
Nur wegen der gesunkenen Wahlbeteiligung liegt der Stimmanteil jetzt geringfügig höher als vor fünf Jahren. Aus dem 20-Prozent-Vorsprung Labours in fast allen Umfragen vor der Wahl ist ein 10-Prozent-Vorsprung geworden, ein deutlicher Dämpfer also.
Die Konservativen erleben dennoch das größte Debakel ihrer 200jährigen Parteigeschichte. Von knapp 44 Prozent bleiben knapp 24 Prozent übrig, von 365 Sitzen gerade mal 121. Insgesamt verlieren 44 Minister und Staatsminister ihre Wahlkreise und damit ihre Abgeordnetenmandate – im britischen Wahlsystem gibt es keine Parteilisten; wer seinen Wahlkreis verliert, fliegt aus dem Parlament.
Zu den Tory-Größen, die das plötzliche Ende ihrer Karriere kaum fassen können, gehören Verteidigungsminister Grant Shapps, der in seiner kurzen Abschiedsrede sein Entsetzen kaum verbergen kann; Bildungsministerin Gillian Keegan, die vorzeitig die Bühne verlässt; und Expremierministerin Liz Truss, von der lange Zeit unklar bleibt, ob sie überhaupt zu ihrer Ergebnisverkündung auf die Bühne kommt.
Alle Tory-Verlierer sind sich einig: die Niederlage ist selbstverschuldet, logische Folge des „Zirkus“ der vergangenen Jahre, wie es der abgewählte Justizminister Robert Buckland ausdrückt. Viele Figuren, die sich bis Donnerstag noch Hoffnungen auf Sunaks Nachfolge als Parteichef machten, sind jetzt selber aus dem Parlament geflogen.
Der scheidende Premier zieht am Freitag in seiner Abschiedsrede vor der Tür von 10 Downing Street daraus die Konsequenz. Er gibt sein Amt als Parteichef ab, aber erst dann, „wenn die formalen Arrangements zur Wahl meines Nachfolgers eingerichtet sind“. Anders gesagt: Kein Mensch weiß, wie es weitergeht.
Tory-Wähler wenden sich nach rechts ab
Wahlbeobachtern fällt auf, dass die Schwäche der Tories gar nicht so sehr Labour nützt. Von den Stimmen, die die Konservativen verlieren, gehen nur ein Drittel an Labour – und zwei Drittel an die neue rechtspopulistische „Reform UK“ von Nigel Farage.
Typisch etwa das Ergebnis im mittelenglischen Nuneaton, das unter Wahlforschern als repräsentativ für den Gesamttrend bei Wahlen gilt: Die Konservativen stürzen von 61 auf 29 Prozent ab und verlieren den einst sicheren Sitz an Labour, das sich aber bloß von 32 auf 37 Prozent verbessert. Reform UK holt aus dem Stand 22 Prozent. Die Wahlbeteiligung geht von 64 auf 59 Prozent zurück.
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Fast überall ist „Reform UK“ die Partei mit den höchsten Zuwächsen. Ihr Führer Nigel Farage zieht in Clacton ins Parlament ein, ebenso wie vier andere Reform-UK-Kandidaten, und verspricht in seiner Siegesrede, dies sei „bloß der erste Schritt von etwas, was euch alle in Erstaunen versetzen wird“. Seine Partei holt aus dem Stand 14 Prozent, vielerorts ist sie zweitstärkste Kraft. „Wir werden die Opposition im gesamten Land sein“, verkündet Farage vor Journalisten am Freitag nachmittag.
Ebenfalls außerordentliche Zuwächse verzeichnen die Grünen, die sich auf über sechs Prozent verdreifachen und vier Sitze holen statt einem. In vielen Wahlkreisen überholen sie die Liberaldemokraten.
Die Liberaldemokraten aber holen mit 72 Sitzen ihr bestes Ergebnis seit über 100 Jahren, obwohl sie ähnlich wie Labour in Stimmen auch nur leicht zulegen. Reihenweise fallen im reichen Süden Englands sichere Tory-Wahlkreise, wo Labour praktisch nicht existiert, an die bürgerliche Alternative.
Nicht zuletzt kollabiert in Schottland die bisher dominante SNP (Schottische Nationalpartei); Labour räumt in Schottland ab. Von 48 Sitzen vor fünf Jahren bleiben der SNP gerade mal 9, ihr Stimmanteil sinkt auf unter 30 Prozent. Einst hatte die schottische SNP-Ministerpräsidentin selbstbewusst die nächsten britischen Parlamentswahlen zum faktischen zweiten Referendum über Schottlands Unabhängigkeit erklärt. Davon kann nun keine Rede mehr sein.
Ohne den Durchbruch in Schottland wäre Labours Triumph deutlich schmaler. In erstaunlich vielen Wahlkreisen kommt Labour bei diesem Wahltriumph nicht über ihr Ergebnis beim Wahldebakel 2019 hinaus – manchmal sogar im Gegenteil. Sogar in seinem eigenen Londoner Wahlkreis verliert Keir Starmer 18.000 Stimmen und 17 Prozentpunkte. Im Wahlkreis nebenan setzt sich sein Vorgänger Jeremy Corbyn als Unabhängiger gegen Labour durch, mit Zugewinnen. In der Stadt Leicester kostet der Unmut an Teilen der Labour-Basis über Gaza die Partei gleich zwei Wahlkreise.
Aber all das wird keine Rolle mehr spielen, wenn die Abgeordneten kommende Woche ihre Büros im Westminster-Palast beziehen, wo das Unterhaus sitzt. Die neue Labour-Regierung wird dann voraussichtlich am 17. Juli ihr Regierungsprogramm vorstellen. Mit der Regierungsbildung hat Keir Starmer gleich am Freitag nachmittag begonnen.
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