Lothringen vor der Wahl in Frankreich: Träumen von alten Zeiten
Der französische Grenzort Forbach kommt meist schlecht weg in den Medien. Viele wählen den Front National, der Jugend fehlt Arbeit.
Rund 2.000 der 22.000 Einwohner der Grenzstadt, die von 1871 bis 1918 und während des Zweiten Weltkriegs zum Deutschen Reich gehörte, haben türkische Wurzeln. Menschen aus 20 Nationen leben in Forbach, viele stammen aus dem Maghreb. Bürgermeister Laurent Kalinowski ist Sozialist, der Front National kommt hier regelmäßig auf 35 bis 40 Prozent der Stimmen. Erst in der Stichwahl entschied Kalinowski 2014 die Wahl für sich – gegen Florian Philippot, den PR-Strategen von Marine Le Pen und Parteivize.
„Philippot?“ Ayşe, die nur einen französischen Pass hat und ihren Nachnamen nicht nennen will, grinst. „Der ist zwar noch Regionalabgeordneter, aber den siehst du hier fast nie.“ Die 34-Jährige gehört zur dritten Generation von Einwanderern, ihre Großeltern kamen in die Region der Kohle wegen – im doppelten Sinn. 1946 verstaatlichte Frankreich die Kohleförderung. Durch den Wegfall deutscher Arbeiter brauchte es schnell Ersatz. Italiener und Polen kamen, Jugoslawen und Algerier, der Lohn war gut, Miete und Nebenkosten vom Staat gezahlt. „Mein Opa, erzählt Ayşe, „galt in Anatolien als schwerreich.“ 2004 schloss die letzte Zeche im Kohlebecken Lothringens, bereits ab 1984 gab es einen Einstellungsstopp.
Der französische Staat zog sich Anfang der nuller Jahre zurück, plötzlich war Eigeninitiative gefragt. „Aber die Menschen hier“, sagt Ayşe, „kannten das nicht, sie waren immer versorgt.“ Außerdem durften die Bergleute keine bezahlte Arbeit mehr annehmen. „Sie wurden abgefunden und in die Passivität entlassen.“ Heute liegt Forbach mit einer Arbeitslosenquote von 14 Prozent über dem Landesdurchschnitt von 10 Prozent. Bei den Jungen unter 30 ist in einigen Vierteln jeder Vierte ohne Job.
Türkische FN-Wähler
Ayşe pendelt täglich wie rund 19.000 GrenzgängerInnen ins benachbarte Saarland. Sie ist Abteilungsleiterin in einem deutschen Baumarkt. „In Saarbrücken ist fast alles billiger als bei uns: Tabak, Trinken, Shoppen. Nur wenn die Deutschen richtig gut essen oder ihr Auto waschen wollen, kommen Sie rüber.“ Ayşe lacht.
Sie spricht fließend Französisch, Türkisch und Deutsch, spielt Frauenfußball. Für welchen Präsidentschaftskandidaten sie stimmt, will Ayşe nicht verraten: „Es geht nur darum, den anderen Kandidaten die Show zu stehlen. Um wirkliche Konzepte geht es nicht.“ Und dass es Türken in Forbach gibt, die den Front National wählen: „Da fass ich mir doch an den Kopf“, sagt Ayşe und steigt auf ihr Motorrad.
Der lang gezogene Betonriegel des Rathauses erzählt von der einstigen wirtschaftlichen Potenz der Kleinstadt im Niemandsland zwischen Deutschland und Frankreich. „Vintage von 1974“, erklärt Hausherr Laurent Kalinowski und bittet in sein immens großes Büro, das wie aus einem Retro-James- Bond-Film wirkt. Auch das nahe liegende Kino Le Paris und der Theaterkomplex Le Carreau stammen aus florierenden Zeiten. Vor Kalinowskis Büro sind alle 28 EU-Flaggen gehisst, fast wähnt man sich an einem Außensitz der UNO.
Der ehemalige Lehrer ist seit 2008 Bürgermeister von Forbach, fährt keinen Dienstwagen, liebt die lange Rede: „Mich nervt, dass die Stadt fast nur mit dem Front National in Verbindung gebracht wird, mit Stimmung gegen arabischstämmige Menschen, mit Sicherheitsfragen. „On est dans les clichés“ – Wir sind mitten drin bei den Klischees, poltert der 61-Jährige mit sonorer Stimme. „Egal, ob die Statistiken Negatives hergeben oder nicht.“ Dass sich Forbach darum bemühe, wirtschaftliche Auswege aus der früheren Monoindustrie zu finden, dass sich hier mittlerweile viele Firmen aus dem Bereich nachhaltige Umwelttechnologie angesiedelt hätten – das interessiere fast nie. „Doch dieses Angstgefühl, diesen Groll gegen das System, den der Front National bei uns verbreitet, der zieht, der wird rauf und runter dekliniert.“
Vierhundert Meter von den ehemaligen Grenzposten entfernt leitet Laurent Damiani, ein gebürtiger Korse, das Eurodev-Gründerzentrum, das erste grenzüberschreitende Frankreichs in der „Eurozone Forbach-Saarbrücken“. Auf über 1.000 Quadratmeter bekommen zurzeit 16 Start-ups bis zu zwei Jahre günstige Räume und Know-how, unter anderem von der EU finanziert.
Die meisten sind aus dem Umland, aber auch Bretonen sind dabei, Saarländer oder Belgier. Erfolgsquote laut dem privaten Betreiber Interfaces: 70 Prozent. „Das ist keine satte Region hier“, sagt Damiani, der mit einer Deutschen verheiratet ist, „es gibt noch viel Platz zu investieren, gerade für spezialisierte Firmen.“ Doch viele in der Gegend hätten „einen Minderwertigkeitskomplex, wenn es um Vermarktung geht. Auch Forbach als Stadt sollte selbstbewusster sein.“ Die Grafiken hinter ihm an der Wand gäben Anlass dazu.
Am 23. 4. ist die erste Runde der französischen Präsidentschaftswahlen. Abgestimmt wird auch über die Zukunft der EU: Die Umfragewerte des rechtsextremen Front National sind höher als bei allen früheren Wahlen.
Die taz ist mit zwei Reporterteams in Frankreich unterwegs: In der Provinz und in Paris erforschen sie, was die Menschen umtreibt, welche Zukunft sie sich für ihr Land wünschen und wer dafür die Verantwortung tragen soll.
Für die Berichterstattung zur Frankreich-Wahl kooperieren wir mit der Tageszeitung Libération.
Damiani, der in Dortmund studiert hat, sichtet Änderungen im französischen Steuergesetz. „Ich hab die Schnauze voll“, sagt er plötzlich vehement. „Ständig neue Verwaltungsakte, nichts ist mehr planbar in Frankreich. Die Regierung weiß nicht, wohin, will aber überall das Sagen haben.“ Das mache Kreativität kaputt.
Für wen er stimmt am 23. April? „Weiß ich noch nicht. Mélénchon ist nicht uninteressant, ein guter Redner.“ Erstaunlich: Ein Geschäftsmann, der sich einen Linken an der Macht vorstellen kann. „Vielleicht“, meint Damiani zum Schluss, „vielleicht sollte man diese Wahl einfach annullieren, wenn sehr viele sich in der ersten Runde enthalten.“
„Das Charisma von Marine“
In der plüschigen, leicht abgedunkelten Café-Bar „Le Gold“ an der Rue Nationale werden in einem fort Hände geschüttelt. Eric Vilain, Fraktionsvorsitzender des Front im Gemeinderat, hält Hof in seinem Sessel. „Kalinowski lässt keine Diskussion zu, er leitet das Rathaus wie ein kleiner Fidel Castro“. Der 58-Jährige, seit 13 Jahren in der Partei, echauffiert sich. „Ständig gibt es Studien über die Stadt, aber bis die ausgewertet sind, ist besonders das Zentrum hier tot.“ Das ganze Geld wandere doch „in sozial schwache Gebiete mit hohem Muslim-Anteil“ wie etwa die Siedlung Wiesberg. Der Innenarchitekt begründet beim Cappuccino „das Charisma von Marine“: „Nur sie ist unabhängig von Europa. Sie allein schafft die Rückkehr zur Nation, die sich nicht dem Islam unterwirft.“
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Der Front habe ja gar nichts gegen Europa, „aber trotzdem muss doch noch jeder Staat seine Haustür abschließen dürfen“. Die Grenzstation zwischen Forbach und Saarbrücken bis 1997: „Wo war das Problem, außer dass sie uns geschützt hat vor Menschen, die unser System ausbeuten?“ Vilain bindet sich die Schnürsenkel, macht eine Pause beim Händeschütteln. „Frankreich in Recht und Ordnung bringen, das ist Marines Programm für die kommenden fünf Jahre. Das schafft sie.“ Zum Abschied mokiert sich Vilain darüber, dass über den Front National fast immer nur holzschnittartig berichtet werde. „Aber sagen Sie selbst, wie sind wir?“
Qui est qui ?
„Nun ja, ich möchte nicht mehr über den Front sprechen“, sagt Frédéric Romac in seiner gleichnamigen Modeboutique ein paar Häuser weiter. „Das ist eine Schande. Die Leute profitieren hier vom Grenzenlosen, haben vergessen, wie schikanös es früher war, und nur weil sie ihren Hintern selbst nicht hochkriegen, wird für den Front gestimmt.“ Romac, Vorsitzender der Gewerbetreibenden im Ort, hebt seinen weißen Terrier, Lou, hoch. „Die meisten Franzosen erwarten zu viel vom Staat.“ 250 Geschäfte gebe es in Forbach, nur 20 hätten sich zusammengetan. Viele Besitzer trauerten nur „alten Zeiten hinterher. Da kriegten die Juweliere die Tür nicht zu bei all den wohlhabenden Bergmannsfamilien“. Vorbei, und anstatt dass Kaufleute hier auf eigene Ideen kämen, „vergleichen sie sich ständig mit Saarbrücken, das fast zehnmal so groß ist.“
Status quo bei Integration
Die Sonne sticht. Georges Vinber raucht vor dem Centre Social im Stadtteil Wiesberg. Der Leiter, Vinber, ist 61 und vor Kurzem zugezogen. Wiesberg wurde als Cité in den 1960er Jahren von dem französischen Stararchitekten Émile Aillaud gebaut. Viele Menschen aus dem Maghreb leben hier, insgesamt rund 3.000. „Seit 40 Jahren“, meint Vinber, „betreibt der Staat eine Titanic-Politik, es gibt keine aktiven Konzepte für die ‚zones sensibles‘, nichts.“ Und es seien auch keine in Sicht. Sozialarbeiter Vinber ist als eine Art Feuerwehr nach Wiesberg gerufen worden. Fast 25 Jahre lang dealten hier Jugendliche, tyrannisierten Mitarbeiter. Nicht selten war das Zentrum geschlossen. Langsam beruhige sich die Lage aber, meint Vinber. „Ich spreche mit jedem, ich mache keine Deals.“
Problematisch bei den Wahlen sei, dass alle Kandidaten den Status quo der Problemzonen belassen wollten. Echte Konzepte zur Integration gebe es nicht, vor allem nicht im Wahlkampf. Das frustriere in den Siedlungen. „Die Wenigsten hier agieren“, meint Vinber. „Und der öffentliche Diskurs mobilisiert null – „En marche“ hin oder her.“ Dann fährt er nach Saarbrücken. Tabak kaufen
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