Linkspartei in der Krise: Zwischen Austritten und Eintritten
Desaströse Wahlergebnisse, Klaus Lederer wirft hin – bei der Linken geht es um die Existenz. Da sind junge Neumitglieder ein rarer Hoffnungsschimmer.
Die Leute am Ostkreuz wirkten nett. Eine Europawahl und drei Landtagswahlen später sitzt Uebler, 29, Neumitglied seit Wagenknechts Austritt, im Roten Laden in Berlin-Friedrichshain. Ein paar Linken-Wimpel sind im Raum verteilt, im Fenster hängt eine rot-weiße Plastikgardine. Zwei Plätze weiter hat Regina Siering, 85, ab 1957 in der SED, dann in der PDS, jetzt bei der Linken, ihr Notizbuch aufgeschlagen.
Knapp 12.000 Menschen sind nach dem Austritt von Sahra Wagenknecht, im Zuge der Correctiv-Recherchen und der Europawahl in die Linke eingetreten. Mehr als die Partei verlassen haben. Es ist einer der raren Hoffnungsschimmer, auf den die rund 52.000 mitgliederstarke Partei bauen kann.
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Der Europawahlkampf endete mit vernichtenden 2,7 Prozent. Bei den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg brach sie ebenfalls ein. In Dresden reichte es nur noch dank zweier Direktmandate für den Wiedereinzug ins Landesparlament, in Potsdam klappte nicht einmal mehr das. Zu den desaströsen Wahlergebnissen kommen parteiinterne Querelen. Beim Landesparteitag in Berlin kam es zum Eklat, als Delegierte zahlreiche Änderungsanträge an einem Antrag „Gegen jeden Antisemitismus“ einbrachten. Rund zwei Dutzend Befürworter des Antrags verließen den Saal, mehrere Parteiaustritte folgten, darunter der von Ex-Kultursenator Klaus Lederer.
„Ich will wenigstens mitgekämpft haben, bevor die letzte verbliebene linke Partei in Deutschland untergeht“, sagt Paul Uebler, der bei Tiktok als Content Manager arbeitet, über seinen Eintritt. Uebler traf die Entscheidung für sich allein. Andere schlossen sich zusammen, darunter vor allem Aktivist*innen linker Bewegungen. Mehrere Hundert versammelten sich im vorigen November hinter dem Aufruf „Wir jetzt hier“. Darin erklärten sie, „aktiv und radikal“ beim Wiederaufbau der Partei mitwirken zu wollen.
In Ortsgruppen und Kreisverbänden treffen nun Skateboard auf Hörgerät, Anarchist*innen auf ehemalige SED-Mitglieder, Ukraine-Unterstützer*innen auf Friedensbewegte. Kann das gutgehen?
„Uns alle verbindet der Kampf für soziale Gerechtigkeit“
Im Roten Laden haben sich rund ein Dutzend Parteimitglieder und Interessierte zusammengefunden. Die Basisgruppe muss einen Termin für eine Delegiertenwahl finden. Jemand schlägt den 2. Dezember vor. „Ich bin ja gegen Weihnachten, aber wollen wir das nicht mit einer Weihnachtsfeier kombinieren?“, überlegt einer der Jüngeren. „Machen wir eine Jahresabschlussfeier daraus“, sagt Regina Siering. Zu DDR-Zeiten hat sie FDJ-Jugendgruppen betreut. „Wenn man will, dass die jungen Leute bleiben, muss man auch mit ihnen zusammenarbeiten wollen“, findet sie.
Stand Anfang Oktober zählt die Linke in Berlin rund 1.700 Neumitglieder. Auf Mitte 30, etwa die Hälfte bereits zuvor politisch aktiv, schätzt Kerstin Wolter, Bezirksvorsitzende in Friedrichshain-Kreuzberg, die Neuen. „Wir waren schon immer ein bunt gemischter Bezirk“, sagt sie, „natürlich treffen da Lebensrealitäten aufeinander.“ Neulich habe ein neues Mitglied beim Basisgruppentreffen vorgeschlagen, in der Vorstellungsrunde auch das eigene Pronomen zu nennen. Die Antwort eines Älteren: „Nee, bei der Linken sind wir alle per Du.“
Vereinzelt habe es in Wolters Basisgruppe Sorge gegeben, „dass jetzt die ‚woken Großstadtlinken‘ in unsere Partei kommen“. Ihr Zwischenfazit: Die Sorge war größer als die tatsächlichen Konflikte: „Uns alle verbindet der Kampf für soziale Gerechtigkeit.“
Die Linke muss die Neuen halten. Mit der Spaltung von Wagenknecht sind vielerorts Parteistrukturen weggebrochen. Hinzu kommt die Demografie. 2021 waren 40 Prozent älter als 60. Vor allem in ländlichen Kreisen in Ostdeutschland ist der Altersdurchschnitt oft deutlich höher. „Viele unserer Mitglieder sind inzwischen im Altersheim“, sagt Susanne Lang aus Strausberg. „Die können nicht mehr plakatieren gehen.“ In der brandenburgischen Kleinstadt kämpft die Linke aber auch mit der Parteipsyche: 2006 gab es in Strausberg 16 Unterorganisationen, jetzt sind es noch vier. Die 48-Jährige ist seit 2013 in der Partei aktiv und mittlerweile im Stadtvorstand.
Viele blicken nach Österreich, auf die KPÖ
Doch es gibt mehr Gründe für die Schrumpfung, findet Lang. „Das Überleben der Linken wird sich daran entscheiden, ob man inzwischen bereit ist für Erneuerung oder doch zurück will zur PDS.“ Ihr selbst fiel es schwer, in der Partei Fuß zu fassen. Auch wegen einiger Altkader, die für neue Ideen kaum Platz machen wollten. „,Ihr jungen Aktivisten habt ja keine Ahnung', denken da viele“, sagt Lang. „Paternalismus ist eine ganz schlimme Art, Leute zu demütigen.“
Ihre Beobachtungen decken sich mit denen von Parteienforscher Benjamin Höhne. Ihm zufolge hat bislang keine Partei in Deutschland eine flächendeckende Willkommenskultur etabliert, die über Willensbekundungen in Sonntagsreden hinausgeht. „Die Neuen werden mitunter als Konkurrenz wahrgenommen“, sagt Höhne. Selbst wenn die Parteiführung das ändern wolle, stocke es oft auf unteren Ebenen. In der Forschung spreche man von Parteien als anarchischen Organisationen: „Von oben Durchregieren ist unmöglich.“
An einem Samstag vor der Landtagswahl im September bringt Lang Neumitglieder aus Tempelhof-Schöneberg für Haustürgespräche mit nach Strausberg. Sie möchte, dass das Ankommen in der Partei heute besser läuft, als es für sie damals war. Man hat den Eindruck, das kann gelingen. Der erste Stopp ist im Linken-Büro auf der Großen Straße im Stadtzentrum. Die Eingangstür steht offen. „Da kommt ja unsere Helfertruppe aus Berlin“, werden die Ankömmlinge begrüßt, „Kaffee ist fertig“. Mehrere Stapel Wahlkampfflyer und Infomaterialien sind vorbereitet, ordentlich sortiert.
Chris Godotzky ist einer der Neuen, die nun mit Lang zum Haustürwahlkampf in einer Plattenbausiedlung unterwegs sind. Godotzky hat den „Wir jetzt hier“-Aufruf mitinitiiert. „Es ist kuschelig in unseren linksradikalen Grüppchen, aber wir kommen nirgendwo hin, wenn wir in unserer Bubble bleiben“, findet er und plädiert dafür, „unsere Antiparteihaltung beiseite zu legen“.
Mit dem Eintritt bei der Linken habe man auf gar keinen Fall eine neue Parteiströmung verfestigen wollen. Aber den Aktivist*innen sei ein strategischer Minimalkonsens wichtig gewesen. Im Aufruf forderten die Neuen, Mandate auf zwei Amtszeiten zu begrenzen sowie Quoten für Arbeiter*innen, Arbeitslose und prekär Beschäftigte. Viele blicken nach Österreich, wo die KPÖ unter anderem durch Gespräche mit Bürger*innen und soziale Angebote zumindest auf regionaler Ebene beachtliche Erfolge erzielt. „Die Partei von unten aufbauen“, nennt Godotzky das.
Die Zeit des Tolerierens scheint vorbei zu sein
Über Ähnliches denkt man im Karl-Liebknecht-Haus nach. In der Parteizentrale wird eine Kampagne erarbeitet, die auf dem Organizing-Prinzip aufbaut: Mittels Tausender Haustürgespräche möchte die Partei mit Menschen ins Gespräch kommen, ihnen zeigen, dass sie Lebensrealitäten versteht. Mehr als 80 von über 300 Kreisverbänden sind laut Partei inzwischen dabei.
Im Vergleich zu linksradikalen Plena können Bezirksversammlungen durchaus Vorteile haben, findet Godotzky: Zum Beispiel, „dass man sich nicht vier Stunden lang eine Debatte anhören muss, die sich eigentlich auf eine beschränken ließe“. Die Leute bei der Partei seien „angenehm unverkrampft, nicht wie auf manchen autonomen Plena, wo niemand seinen echten Namen sagen und auch nicht so richtig Aufgaben übernehmen will“. Der lange Atem sei zudem etwas, was Aktivist*innen von Parteilinken lernen könnten.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass von den Älteren aus Tempelhof-Schöneberg an diesem Samstag niemand mit den Neuen nach Strausberg gefahren ist. Die Älteren wollten Positionspapiere schreiben, die Jüngeren lieber mit den Leuten ins Gespräch kommen, berichten Letztere. Vielfach steht der Ukrainekrieg zwischen den Generationen. „Solange wir uns in unserer Unterschiedlichkeit tolerieren können, finde ich das okay“, sagt Godotzky.
Spätestens seit am Mittwoch unter anderem Ex-Kultursenator Klaus Lederer, Ex-Bausenator Sebastian Scheel und die ehemalige Sozialsenatorin Elke Breitenbach ihren Parteiaustritt erklärt haben, scheint auf der Führungsebene der Berliner Linken die Zeit des Tolerierens vorbei zu sein.
Der Bundesparteitag hat Mut gemacht
Zwar hatte sich der Landesvorstand am Dienstag noch auf eine Resolution geeinigt, die jede Form von Antisemitismus verurteilt. Doch die Nachricht verpuffte vor dem Hintergrund der Austritte ebenso wie die Ankündigung der neuen Bundesvorsitzenden, auf die Hälfte ihres Gehalts verzichten zu wollen.
„Ich empfinde das schon als einen Nackenschlag“, sagt Susanne Lang aus Strausberg über den Rückzug der Ex-Senator*innen, „aber ich lasse mir die Hoffnung nicht nehmen“. In ihrem Kreisverband habe am selben Abend eine Veranstaltung stattgefunden. „Langjährige und neue, junge und alte Mitglieder haben darüber diskutiert, warum sich viele Menschen eher das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorstellen können, und wie sie daran etwas ändern können“, erzählt sie. „Da habe ich Hoffnung gespürt, und davon will ich mich tragen lassen.“
Chris Godotzky sagt, ihm habe der Bundesparteitag Mut gemacht, daran änderten die grantigen Abgänge nichts. Auch Paul Uebler zeigt sich unbeeindruckt. Er habe weiterhin das Bedürfnis, eine starke linke Partei in Deutschland aufzubauen, und wolle ohnehin lieber mit Menschen ins Gespräch kommen, als seine Freizeit auf Parteitagen zu verbringen.
Die 85-jährige Regina Siering sagt: „Meine Devise ist: Die Partei geht nicht unter.“ Man solle sich an der Geschichte orientieren, wenn man mal am Boden zerstört sei. „Da wären wir dann wieder bei Marx“, meint sie und lacht.
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