Linkes Café in Georgien: Wenn aus Theorie Praxis wird
Das Café „Praxis“ in Tbilissi ist ein Ort des Austausches und des günstigen Essens. Und einer der Orte, wo sich Einheimische und Migranten begegnen.
Soll ich dich ins ‚Praxis‘ einführen?“ Das ist ein Angebot, das man unmöglich ausschlagen kann. Den Ausdruck „linkes Café“ umgibt ja ein Hauch von romantischer Unanständigkeit, von beginnendem 20. Jahrhundert und Weltrevolution. Und dabei ist ganz und gar unwichtig, dass wir längst im 21. Jahrhundert angekommen sind und der erste Versuch einer Weltrevolution, vorsichtig ausgedrückt, gescheitert ist.
Чтобы как можно больше людей смогли прочитать о последствиях войны в Украине, taz также опубликовал этот текст на русском языке: here.
Mehr als hundert Mal hat der Planet die Sonne umkreist und ist, so will es scheinen, zum Ausgangspunkt zurückgekehrt. Im Südkaukasus und den angrenzenden Regionen ist mal wieder die Hölle los, und das ganz schön abgehalfterte, aber unverwüstliche „Gespenst des Kommunismus“ steht rauchend auf dem Balkon des Cafés „Praxis“ und mampft ein Sandwich aus dem Brot, das hier selbst gebacken wird.
Die linke georgische Bewegung Chma (dt. die Stimme) kümmert sich um soziale Probleme und Arbeitnehmerrechte. Seit ihrer Entstehung vor ein paar Jahren hat sie schon eine ganze Reihe öffentlichkeitswirksamer Kampagnen umgesetzt. Zum Beispiel für die Nationalisierung der strategischen Ressourcen Georgiens, die aktuell Russland oder kremlnahen Oligarchen gehören. Oder für die Einführung von kostenlosem Schulessen in Mittelschulen.
Daneben haben die Aktivisten von Chma immer davon geträumt, ein „Café für die Arbeiterklasse“ zu eröffnen, das Studierenden und Arbeitnehmern hochwertigen Service bei maximal niedrigen Preisen bietet. Daneben sollte es auch ein politisches Café sein, wo Menschen, die gegen Krieg und Imperialismus sind, sich mit andersdenkenden Menschen austauschen, dabei auf neue Ideen kommen und diese praktisch umsetzen können.
Journalistin und Autorin aus Aserbaidschan. Lebt aktuell in Georgien.
Aber erst, als ein Freund ihnen einen nicht mehr benötigten Brotbackofen anbot, beschlossen die Leute von Chma, dass jetzt die Zeit reif sei. Und so wurde aus der Theorie des Cafés das „Praxis“.
Das Café wurde am 7. August 2022 eröffnet, mitten im Krieg gegen die Ukraine. Zu dieser Zeit gab es in Tbilissi schon Dutzende Orte, an denen Anti-Kriegs-Veranstaltungen stattfanden. Aber Einheimische und Migranten sind sich in diesen Einrichtungen fast nie begegnet. Ins Praxis kamen nach und nach sowohl Georgier als auch Russen, Ukrainer und sogar Armenier, Aserbaidschaner, Inguschen …
„… und aus irgendeinem Grund auch sehr viele Deutsche“, erzählt Giorgi etwas verwundert. Er ist einer der Gründer vom Praxis.
Und so hat sich das Café zu einem beliebten Ort mit eigener Atmosphäre entwickelt, wo man preiswert zu Abend essen oder hausgemachten Wein trinken, an Diskussionen teilnehmen oder selbst welche organisieren, politische Filme sehen, Folklore aus verschiedenen kaukasischen Ländern hören kann …
„Das ist kein kommerzielles Projekt. Wir machen keinen Gewinn. Am Ende eines Monats sind wir im Idealfall immer bei plus/minus null. Und im Sommer waren wir wegen Ferien und Urlaub schlechter besucht und sind im Minus gelandet“, erklärt Giorgi.
Darum ist das Café jetzt auch in der Krise. Und um die zu überwinden, haben die Chmas zu einer Spendenaktion aufgerufen. Teilnehmen daran können sowohl die, die hier schon regelmäßig ein und aus gehen, als auch die, die noch nie zuvor die Frage gehört haben „Soll ich dich ins Praxis einführen?“
Aus dem Russischen Gaby Coldewey
Finanziert wird das Projekt von der taz Panter Stiftung.
Ein Sammelband mit den Tagebüchern ist im Verlag edition.fotoTAPETA erschienen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
Tarifeinigung bei Volkswagen
IG Metall erlebt ihr blaues „Weihnachtswunder“ bei VW
Jahresrückblick Erderhitzung
Das Klima-Jahr in zehn Punkten
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass