Liebe zur Musik: Vom Mut, zu viel zu sein
Unsere Autorin hat sich einen Steinway-Flügel gekauft – und stellt sich dem Mädchen, das sie einmal war.
E s gibt verschiedene Möglichkeiten, seinen Ängsten ein Zuhause zu geben, ich habe mich für ein Klavier entschieden. Es hat einen waldhonigfarbenen Körper, ist 155 Zentimeter lang, das kleinste Modell der Firma Steinway & Sons, ein Flügel, gebaut in Hamburg im Kriegsjahr 1940. Die oberen Lagen sind brillant wie die seiner viel teureren, jüngeren Verwandten, aber nicht hysterisch, der Bass klingt rund und voll und die Mitte bleibt ausgewogen. Er hört sich sehr gut an. Nein, ich will es anders ausdrücken, ohne Zurückhaltung: So klingt Liebe.
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Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, ich würde mich finanziell für ein Musikinstrument verausgaben, ich hätte in stiller Nachsicht den Kopf geschüttelt. Früher vielleicht, hätte ich gedacht, als ein paar der Möglichkeiten, die man so hat als junger Mensch in Europa, eine Chance gehabt hätten, in Erfüllung zu gehen. Außerdem: wohin in der Berliner Familienwohnung mit so einem Elefanten von Instrument?
Und, schlimmer, wenn ich mich trauen würde, auf ihm zu spielen, würden sie mich hören, die Nachbarn oben, die Nachbarn unten, die Leute auf der Straße. Irgendwann würden sie bei uns klingeln. Ich würde die Tür öffnen. Die Freundlichen unter ihnen würden lächeln und Begründungen erfinden, weshalb ich bitte nicht vormittags/mittags/nachmittags/abends Klavier spielen sollte wegen Baby/Homeoffice/sonstiger Sorgen, als wären sie schuld daran, dass ich sie störe. Als wäre nicht ich zu viel.
Wahrscheinlich schreibe ich deshalb. Schreiben ist, abgesehen vom Klacken auf der Tastatur, nicht zu viel. Texte sind still, sie stören nicht, wenn sie entstehen, die Nachbarn nicht, und später müssen sie auch die Leser nicht stören. Ich meine nicht, dass Texte nicht aufrütteln oder neue Perspektiven eröffnen oder einen wütend, traurig, glücklich werden lassen können. Aber sie tun es auf eine distanzierte Art. Wenn sie denen, die sie lesen, nicht gefallen, scrollen sie halt weiter oder wickeln ihren Biomüll ins Papier. Was ich meine: Zwischen mir und dem Geschriebenen und zwischen mir und den Lesern gibt es erst das leere Dokument, dann die Buchstaben, dann die Redakteure, und vor allem gibt es Zeit.
Keine Filter
Musik ist das Gegenteil von Stille und das Gegenteil von Abstand. Man kann ihr nicht ausweichen. Man kann sie nicht festhalten. Wenn ein Ton kommt, dann fällt er in einen hinein. Zwischen mir und der Musik gibt es – nichts. Keinen Filter. Sie greift in mich hinein und zieht alles raus. Das ist extrem, wenn man ihr zuhört. Das kann unerträglich sein, wenn man sie macht.
Der Gedanke, mich mit einem Klavier dem Mädchen zu stellen, das ich einmal war, kommt mir im Sommer vor einem Jahr. Meine Mutter ruft an und sagt, dass meine frühere Klavierlehrerin gestorben sei.
Sie hieß Frau F., hatte eine tiefe Stimme und ein flächiges Gesicht. Sie war groß und blieb es auch, als ich ausgewachsen war. Ich verbrachte viele Stunden mit ihr, seit ich fünf war. Sie war unsere Nachbarin, früher Opernsängerin, später Korrepetitorin, dann private Klavierlehrerin. Ich ging jede Woche ein- bis zweimal zum Unterricht in ihr altes Haus, das unter dunklen Nadelbäumen kauerte wie in einer Höhle. In einem Erkerzimmer auf einem durchgescheuerten Teppich stand ihr Blüthner-Flügel.
Seine Tasten waren angegraut von Generationen von Klavierschülern. Vergilbte Partituren quollen aus den Regalen, im Winter zog die Kälte durch die Fenster, im Sommer die Hitze, aber der Flügel schien den Temperaturen zu trotzen. Wenn alles andere in mir in Aufruhr war, der Flügel blieb stabil, voll und rund im Bass, hell und lyrisch in der Höhe. Er machte es mir leicht, denn er reagierte schon beim Gedanken, einer Note eine andere Farbe geben zu wollen.
„Willst du unser Klavier haben?“, fragt meine Mutter in die Stille, die am Telefon entstanden ist, nachdem sie mir von Frau F.s Tod erzählt hat. Meine Mutter fängt gern große Gefühle mit dem Praktischen ein, meine Bewunderung dafür grenzt an Neid. Das Klavier stünde rum und staube ein, sagt sie, sie selbst spiele nicht mehr, unsere Kinder hätten bestimmt Freude daran. Vielleicht käme ja auch ich hin und wieder dazu, zu üben, wir könnten eine Spedition bestellen, kein Problem.
Das Klavier meiner Eltern ist ein Instrument, für das es im Englischen den Begriff Upright Piano gibt. Der Klangkörper nimmt weniger Raum ein als bei einem Flügel, er steht aufrecht an der Wand. Wenn man die Tasten anschlägt, wird der Druck auf die Hämmer, die auf die Saiten treffen, erst durch eine Mechanik in die Senkrechte umgeleitet. Bis der Druck der Fingerkuppe also auf der Saite ankommt, dauert es beim Klavier immer einen Moment länger als beim Flügel, und besonders lange dauert es beim Klavier meiner Eltern. Man könnte auch sagen, es hat die Aura eines Volvos: praktisch, geduldig, alles, aber nicht reaktionsschnell. „Überleg’s dir“, sagt meine Mutter und beendet das Gespräch.
Damals spielte ich am liebsten auf Frau F.s Blüthner. Als ich noch kleiner war, ließ ich Tiere über die Tasten kriechen, hüpfen, stelzen, schwimmen, schleichen. Ich erinnere mich an dieses Gefühl, das sich tief in mir einstellte, wenn ich ein Stückchen in Moll spielte und mir vorstellen sollte, es sei die Geschichte eines Hundes, der den Weg nicht mehr nach Hause fand. Ich erfuhr, wie sich etwas anfühlte, wofür ich erst später Worte kennenlernte: Verzweiflung zum Beispiel, wie im Fall des Hundes. Oder Überschwang. Oder Abschied. Abschied war der Moment, wenn ein Lieblingstakt verklang und ich ihn wieder erleben wollte, aber so nicht mehr hinbekam.
Ich durfte zu ihm, wenn meine Eltern mir zu Hause sagten, ich hätte doch schon Stunden geübt, das reiche für den Tag, schließlich würde ich nicht Pianistin werden wollen. Oder? Sie sagten, Pianisten bräuchten nicht nur viel Talent, sondern auch viel Glück. Wenn jemand sogar alles hätte, Talent und Fleiß und Glück, dann würde ich nicht mein Leben damit verbringen wollen, nach Konzerten einsam in Hotelzimmern zu sitzen. Oder? Ich konnte mir damals nichts unter Einsamkeit in Hotelzimmern vorstellen. Aber es schien etwas zu sein, was man nicht riskieren sollte.
In den Stunden im Erkerzimmer löste ich mich in der Musik auf. Als ich älter wurde, spürte ich Menschen und Charaktere um mich herum, wenn ich spielte, ich berauschte mich an Akkorden, und wenn ein Stück wie von selbst lief, hatte ich immer wieder dieselben Charaktere um mich, sogar meinte ich mal, meine verstorbene Großmutter zu spüren. Auf manche freute ich mich, manche gruselten mich, aber sie waren der Grund, weshalb ich immer weitermachte.
Es war auch, als würde Frau F. hören, was in mir vorging, wenn ich nur zwei Takte spielte. Frau F. sagte mir Sätze wie: „Hat dich dein Bruder geärgert?“ Sie stellte fest: „Du bist verliebt“ oder: „Heute scheint die Sonne bei dir.“ Ich verstand, dass Musik mit dem Leben zusammenhängt, und durch sie lernte ich, dass ich vor der Musik nichts verstecken kann und dass Musik alles preisgibt.
Das klingt ein bisschen pathetisch, aber das ist die Wahrheit. Und es wurde zum Problem. Wenn jemand die Triolen, das Tempo, die Dynamik, irgendwas kritisierte, dann kritisierte der Jemand nicht meine Technik oder die Art, wie ich Musik machte.
Er urteilte über mich.
Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb selbst Profimusiker immer wieder behaupten, sie stünden ganz im Dienst eines Werks. Als seien sie überzeugt, es würde helfen, sich hinter den Komponisten zu verstecken. Für mich klingt es, als sagten sie, das, was ihr hört, bin gar nicht ich, es ist ein anderer. Als dürften sie nicht ich sagen in der Musik. Vielleicht ist das ein Schutz, ich weiß es nicht.
Nach einem Jahr voller Abstand und Kontaktbeschränkungen widmen wir uns in unserer Weihnachtsausgabe dem Gefühl, ohne das 2020 wohl erst recht nicht auszuhalten gewesen wäre: der Liebe. Muss man sich wirklich selbst lieben, um geliebt werden zu können? Hilft der Kauf eines Flügels bei der Auseinandersetzung mit dem Kind, das man einmal war? Und was passiert eigentlich mit all den Lebkuchenherzen, die nicht auf Weihnachtsmärkten verkauft werden konnten? Ab Donnerstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.
Frau F. begleitete mich damals zu Vorspielen. Manche fanden mit anderen ihrer Schüler statt, andere vor Leuten, die mir nicht vertraut waren. Anfangs waren Vorspiele etwas, was man halt so machte als Klavierschülerin. Aber dann wurde ich Teenager und begann, Blicke wahrzunehmen. Wie unter einer Lupe sah ich die Mimik der Menschen im Raum, ich hörte sie tuscheln, bezog jede Regung auf mich.
Ich erinnere mich an ein Vorspiel in der Aula meines Gymnasiums. Es war naturwissenschaftlich ausgerichtet. In der Schule glänzte, wer in Physik glänzte und in Mathe und so. Musik, Kunst, Sprachen, die waren halt dabei, aber ich meine, es gab damals unter den Menschen, die diese Fächer unterrichteten, nur den Kunstlehrer, den nicht der Frust über eine verlorene Biografie betrübte.
An diesem Vorspielabend war die ganze Schule anwesend, gut 400 Schüler. Ich weiß nicht mehr, warum es diesen Abend gegeben hatte und ob zuvor etwas vorgefallen war, aber ich weiß, dass ich auf den Nadelfilzteppich im Raum starrte. Ich starrte auf den Nadelfilz und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Frau F. blieb an meiner Seite, während ich zitterte und flach atmete, das kannte ich. Als meine Hände vereisten, legte ich sie in warmes Wasser. Das Wasser half nicht. Die Hände blieben Eis, mein Debussy blieb es auch, steif und leise, das fand dann auch jemand, der im Publikum saß.
Ich brachte den Debussy hinter mich, habe mich wahrscheinlich nicht beschämend verspielt, aber ich erinnere mich, dass ich jede Note einzeln hörte. Als sähe man Zähne, Nase, Poren, Haare, aber nicht den Menschen, zu dem das Gesicht gehört. Oder träte zu nah an ein Seerosengemälde von Monet und erkennte Pinselstriche und Farbtupfen, aber nicht das, was sie bedeuten. Es war, als wäre ich auseinandergefallen.
Nach diesem Vorspiel kam ich weiterhin ins Erkerzimmer im Haus unter den Nadelbäumen, zum vollen Bass des Blüthners, seiner warmen Mitte, der lyrischen Höhe. Frau F. sagte, sie könne mir nichts mehr beibringen, ich solle zu einer anderen Lehrerin gehen, wenn ich diesen Liszt fertighätte. Ich übte alles, die Läufe, das Flirren und Leuchten, die handspreizenden Akkorde, die Melodie in der Mitte, die der Daumen zu spielen hatte. Aber die letzte Seite des Liszts rührte ich nicht an. Ich kann sie bis heute nicht. Frau F. redete mir gut zu, sie redete mit meinen Eltern, meldete mich bei Wettbewerben an. Dann meldete sie mich wieder ab.
Meine Mutter setzt Ideen gern um. Nach unserem Telefonat bestellt sie einen Klaviertechniker, der das Instrument untersucht. Es ist kaum verstimmt, die Tasten laufen gleichmäßig. Der Techniker öffnet den Klangkörper und stellt einen Riss in der Gussplatte fest. Die Gussplatte verhält sich im Instrument wie das Becken im Körper eines Menschen, es hält alles zusammen. Der Riss in der Gussplatte ist haarfein, man kann auf dem Klavier noch spielen, einen Transport würde es nicht überleben. Die Nachricht enttäuscht mich nicht.
Als die Schule mich nach dem Abi endlich freigab, zog ich in eine andere Stadt und stopfte Hunderttausende Buchstaben zwischen die Musik und mich. Vielleicht kann man sagen, ein Musikwissenschaftsstudium ist der Versuch, Abstand zur Musik zu bekommen. Ich bekam Worte für sie. Ich lernte, Sonaten in ihre Bestandteile zu zerlegen, Terzverwandtschaften zu erkennen, und wie die unauflösbare Sehnsucht im Tristan-Akkord funktioniert.
Ich schrieb über die Wirkung offener Schlüsse und las Bücher darüber, wie Mozart es schaffte, dass die Musik seiner Opern ehrlicher war als die Texte, die seine Figuren sangen. Abiturtreffen mied ich, um nicht das Berufsbild eines Musikwissenschaftlers definieren zu müssen. In meinem Studentenzimmer stand ein E-Piano, es klang farblos, aber okay, nur die Charaktere, die mich einst umgeben hatten, wenn ich auf dem Blüthner spielte, die kamen nicht zurück.
Likör und Resignation
Wenn ich meine Eltern besuchte, schaute ich anfangs bei Frau F. vorbei, setzte mich ins Erkerzimmer. Meine Finger waren träge geworden, klar, aber sie hörte noch immer meine inneren Zustände in der Musik. Sie fragte nicht mehr, warum ich es nicht an der Hochschule probiert hatte. Sie bot mir Likör an, ich meinte, Resignation in ihrem Gesicht zu erkennen, ich lehnte ab. Als ich ihr ein nächstes Mal begegnete, stellte ich mich an den Gartenzaun, um ein paar Sätze mit ihr zu wechseln, später winkte ich ihr eilig von der Straße zu. Dann sah ich sie nicht mehr.
Ich schrieb über die Mutteruhr der DDR, spätes Coming-out älterer Männer, darüber, warum sich Menschen Kunst an die Wand hängen, und wie das Auswahlverfahren für eine Stelle im Orchester Bewerber zermürben kann. Ich interviewte Musiker, fragte sie, warum sie als Teenager nicht aufgehört hatten, ob sie jemals einen Plan B hatten (meistens nicht) oder was sie sonst machten, wenn nicht Musik. Das ging. Im Grunde ging es in Gesprächen mit Musikern oft um ein Konzept (nur Lieder, die im Krieg entstanden waren), eine Biografie (nur Stücke von Clara Schumann), ein Instrument (Mozarts Geige). Aber die Musik selbst mied ich wie eine unerfüllte Liebe: Ich ließ sie nicht an mich heran. Dafür fand ich gute Gründe. Die Arbeit. Die kleinen Kinder. Der Klang des E-Pianos.
Im Rückblick zerfällt jede Entscheidung in Gründe, und natürlich könnte ich behaupten, sie sei auf bestimmte Ereignisse zurückzuführen. Eines erlebe ich täglich. Seit einiger Zeit wohnt ein Flötist über uns. Er spielt über Stunden auf einer Bansuri, einer indischen Flöte. Die holzigen Vierteltöne ziehen in dünnen Linien in unsere Wohnung. Sie zersetzen meine Sätze, bevor ich sie aus meinem Kopf in den Computer tippen kann. Anders ausgedrückt: Die Flöte nervt. Aber ich kann ihr die Vierteltöne nicht nachtragen, denn wenn ich unsern Nachbarn im Treppenhaus sehe, sieht er glücklich aus.
Ein anderes Erlebnis waren die Begegnungen mit einer Person, die so viel Fleiß und Talent und Glück gehabt hatte, dass sie das Dilemma mit den einsamen Hotelzimmern kannte. Sie schien auch das zu sein, wofür das Wort unstet erfunden wurde: mal charmant, mal verletzend, mal total deprimiert, dann voller Freude. Heute würde ich sagen, sie hatte vielleicht so viel Zeit mit Musik verbracht, dass sie wurde wie sie: Mal stößt sie dich weg, dann umarmt sie dich. Sie ist nie eindeutig. Und das Schmerzhafteste an ihr: Wenn ein Ton verklungen ist, holt man ihn nicht zurück. Er kommt nie wieder, wie er war.
Wenn dieser Mensch Musik machte, schien er sein Publikum in die Gegenwart zu holen, jedes Mal. Er tat das in hoher Frequenz. Die Musik schien ihn so anzufüllen, dass er noch andere Ventile brauchte als Konzerte: Worte. Er sprach über Musik und über vieles andere, manche urteilten deshalb schlecht über ihn, als dürften Musiker nichts anderes machen als Musik. Ich war ihm dafür dankbar. Ich fand nicht, dass er ein extra Diplom dafür bräuchte. Nach dieser Logik würde auch jemand wie ich ein Diplom brauchen, um wieder Klavier spielen zu dürfen, und zwei, wenn ich auf einem Flügel spielen wollte. Auf meinem Flügel. Es muss ja nicht Liszt sein.
Der Flötist mit seiner Bansuri, der Pianist mit seinen Ventilen: Sie waren und sind für mich das, was ich mir unter frei vorstelle.
An einem diesigen Wintertag, ein paar Wochen vor dem Shutdown, betrete ich ein Klavierfachgeschäft in Berlin. Ich eile an den schwarz lackierten Flügeln vorbei zu den Upright Pianos und setze mich ans erste, ans zweite. Sie klingen schön, laufen leicht. Ich entdecke einen Hebel unter der Tastatur, lege ihn um. Das Klavier vibriert nicht mehr. Man hört den Klang nur über Kopfhörer. Eine Stummschaltung. Wie für mich gemacht!
Vielleicht wage ich mich deshalb an den ersten Flügel, mir kann nicht viel passieren, denke ich. Ich staune über die Leichtigkeit, mit der die Taste den Druck meiner Finger auf den Hammer übersetzt und der Hammer auf die Saite. Die Schwerkraft ist mein Freund. Ich muss den Finger kaum heben, um denselben Ton noch mal anzuschlagen. Ich kann sehr leise spielen. Sehr, sehr leise. Ich kann ihn brüllen lassen.
Wie eine Einbauküche
Der Flügel ist weiß, ich denke an Udo Jürgens. Ich setze mich an den nächsten, schwarz lackiert, die Klarheit seines Klangs fasziniert mich. Ein anderer kostet so viel wie unsere Einbauküche. Seine Höhe: kräftig, aber kühl. Der freundliche Klavierfachmann erzählt, wie ein Instrument sich verändere, je nachdem, wer es spiele. Jeder Flügel, der neu aus der Fabrik kommt, von der Chefintoneurin geprüft, habe einen Grundcharakter, der sich weiter ausbilde, je nachdem, wer ihn regelmäßig spiele. Von da an würde das Holz in Schwingung versetzt. Manche können wunderbar mit dem einen Instrument spielen, mit dem nächsten aber nicht, da klinge es so schlimm, dass sie bei Steinway am liebsten sofort den Klavierstimmer bestellen würden.
In einem Nebenraum steht ein waldhonigfarbenes Instrument, sie haben es kürzlich aus dem Haus eines Arztes in Berlin-Lichterfelde geholt. Nach dem Tod des Arztes ist seine Frau in ein Pflegeheim gezogen, den Flügel konnte sie nicht mitnehmen. Mehr kann der nette Klavierfachverkäufer nicht über die Familie sagen. Es ist ein S-155, S wie für Small.
Ich klappe den Deckel auf, setze mich aber nicht. Wenn er so klänge, wie ich fand, dass er aussah? Warm? Nahbar? Was, wenn ich mich verliebte? Er kostet deutlich weniger als manche Instrumente im Raum, aber immer noch so viel, dass mein Mann mich für übergeschnappt erklären würde. Im Stehen schlage ich die Tasten an. Gut, es ist kein Konzertflügel, er muss auch nicht ein Orchester überstrahlen, er soll sich anschmiegen, begleiten, er ist für die Hausmusik gedacht worden. Vielleicht liegt es an seinem Baujahr, 1940, dass er so lyrisch klingt. Die Zeit war kalt, der Klang hielt dagegen. Gibt nach, gibt zurück. Umarmt.
Ich fahre nach Hause, messe unser Wohnzimmer aus und rufe die Bank an.
In der Nacht stehe ich auf der Bühne der Elbphilharmonie. Ihre Wände wie in einer Waldorfschule, keine Kanten, fett gespachtelt. Ich atme flach, finde meine Noten nicht. Schreite über die Bühne, sie ist mit Nadelfilz bezogen. Setze mich an den Flügel, er reflektiert die Scheinwerfer. Das Licht blendet. Ich sehe nichts und spüre die Erwartung. Ich werde steif. Als ich aufwache, rast mein Puls.
Ich rufe einen Freund an, er ist Musiker, einer von denen, die sich aufs Wesentliche beschränken. Ich erzähle ihm von der Farbe, vom runden Bass, von den Kosten, vom fehlenden Platz in der Wohnung, von den Nachbarn, ich frage ihn, was man bei einem Flügel beachten muss, als wäre er ein Gebrauchtwagen und mein Freund ein Hobbyschrauber. Er sagt nicht viel. Er sagt, das höre sich an, als habe sich dieses Gefühl eingestellt, wenn alle anderen Fragen keine Rolle mehr spielen, das gleiche Gefühl, einen Menschen zu treffen, von dem man feststelle, man möge ihn, freundschaftlich, romantisch. When it’s right, it’s right, sagt er. Alternativen vergleichen zu wollen sei völlig überschätzt.
Ich muss plötzlich an Grigori Sokolov denken, der sich die Seriennummern der Flügel notiert, damit er sich merkt, welcher zu welchem Programm passt, sodass er einen bestimmten Flügel für einen bestimmten Abend anfordern konnte, aber das ist eine andere Geschichte.
Zwei Tage später unterschreibe ich den Kaufvertrag. Im März tragen zwei schwere Männer meinen Steinway S-155 ins Wohnzimmer, es ist zum Beginn des Shutdowns. Ich habe vielleicht immer noch nicht genug Fleiß und Talent, aber jetzt Glück und Zeit. Immerhin hat bislang noch kein Nachbar geklingelt.
Inzwischen spielt auch die fünfjährige Tochter auf dem Instrument. Sie baut sich ein Kuscheltierpublikum. Ihre Lehrerin sagt, wir sollten den Flügel aus der Ecke rausschieben, sie sollte sich früh daran gewöhnen, dass sie nicht versteckt in einer Höhle sitzt. Klavier spielen sei leicht, sagt die Lehrerin. Es sei nur eine Frage, wie man die Finger organisiert.
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