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Liesel in den Siebziger­jahren. Oft ist sie energisch, fordernd Foto: privat

Leben als ledige Frau im DorfDas Vermächtnis von Liesel Schwab

Ihr Leben lang kämpfte die Tante unserer Autorin um Respekt als unverheiratete Frau auf dem Dorf. Das tat sie nicht nur für sich. Eine Würdigung.

D as Telefon klingelt, es ist ein altes, das fest an der Wand hängt, hinten im kalten Flur, wo die steile Treppe zum Speicher ist. Wenn nur wir Kinder zu Hause sind, müssen wir auf einen Hocker steigen, um an den schwarzen Hörer zu kommen.

„Ja, bitteschön, hier ist Schwab 483.“ So hatte man uns eingeschärft, sollen wir uns melden. 483 ist unsere Nummer. Es gibt in den Sechzigerjahren nicht viele Telefone im Dorf. Nachbarn und Verwandte kommen vorbei, wenn sie telefonieren wollen.

„Ich würde gerne mit der Elisabeth sprechen“, sagt eine Männerstimme am anderen Ende der Leitung. Elisabeth, das hört sich für uns vornehm an. „Einen Moment bitte“, sagen wir, und wollen mit unserer Wortwahl auch vornehm klingen, rennen die Treppe hinunter, rennen über den Hof, gehen ins kleine Nachbargebäude, das direkt an unseres grenzt, es ist Elisabeths Elternhaus, tagsüber ist sie oft dort. Schon auf der Treppe rufen wir: „Tante Liesel, Telefon. Tante Liesel, Telefon.“

Liesel nun ihrerseits aufgeschreckt und mitten aus der Hausarbeit gerissen, rennt aus dem Haus und die Treppe hoch. Dann steht sie in diesem abseitigen Flur, wo das Telefon hängt, und wir verstehen ihre Aufregung nicht.

Liesel, Mitte 20, hat Verehrer. Viele. Immer sind andere Stimmen am Ende der Leitung. Manche forsch, manche leiser, als wäre es vermessen, nach der Elisabeth zu fragen. Uns, den Kindern, um die zwanzig Jahre jünger als sie, war es egal. Wir konnten die Töne und Misstöne am Telefon noch nicht deuten. Das ging ein paar Jahre so. Dann wurden die Anrufe seltener, wir verstanden die Erwartung besser, je älter wir selbst wurden.

Die Erwartung, die Liesel die Treppe hinaufrennen ließ mit rotem Gesicht. Und die Stille, die man in sich hören konnte, sobald der Hörer wieder auf der Gabel lag und es keine Worte mehr gab, die einen verbanden.

Die Frauen, deren Berufe Ledig oder Verheiratet waren, waren nicht glücklich. Ledig war ganz schlecht, so viel spürte ich schon als kleines Mädchen

Wenn ich, als ich noch nicht zur Schule ging, gefragt wurde, was ich einmal werden wolle, überlegte ich und sagte dann: „Nonne.“ Und wenn sie weiter fragten, welche Berufe von Frauen ich kenne, dann waren es drei: Ledig. Verheiratet. Und Nonne. Nonne schien mir am Schönsten. Die Kindergärtnerinnen waren Nonnen, eine Schwester von Liesels Vater, die uns manchmal besuchte, auch. Nonne wurde sie, weil ihr Verehrer als Soldat im Ersten Weltkrieg starb.

Kirchturm – Orientierungspunkt im Dorf Foto: Stefan Pangritz

Aus welchen Gründen auch immer die Berufung erfolgte, Nonnen schienen mir zufrieden, fröhlich, glücklich sogar. Die Frauen, deren Berufe Ledig oder Verheiratet waren, waren es nicht. Ledig war ganz schlecht, so viel spürte ich schon als kleines Mädchen. Später, als ich zur Schule ging, lernte ich noch den Beruf der Lehrerin kennen. Frau Zilling, Fräulein Strittmatter. Es war wie eine Befreiung. Ab da wollte ich Lehrerin werden.

Warum Liesel am Ende unverheiratet blieb, das versteht niemand wirklich. Sie ist doch so eine umschwärmte, lebenslustige Frau. Blond war sie, ihre Zöpfe hatte sie irgendwann abgeschnitten, eine Dauerwelle umrahmte fortan ihr ebenmäßiges Gesicht, das etwas flächig ist, als wäre da ein alpiner Einschlag, ihre Wangen hoch und rot.

Liesel ist 1937 geboren. Im Dorf. In Süddeutschland, nahe der französischen Grenze. Ein paar Hundert Einwohner und Einwohnerinnen leben damals dort. Ihr Vater ist Mechaniker; eigentlich Automechaniker, aber außer seinem eigenen Auto gibt es nur noch ein weiteres im Ort. Deshalb repariert er alles andere, was anfällt. Fahrräder oft. Landmaschinen, Wasserleitungen.

Liesel hat zwei Brüder, der eine 14, der andere 11 Jahre älter als sie. Zwischen ihr und dem jüngeren der beiden Brüder hat ihre Mutter vier Kinder verloren. Alles Frühgeburten. Zwei lebten bei der Geburt noch, bekamen Namen, Irma und Alfred, die anderen beiden, Zwillinge, starben sofort und blieben namenlos.

Aus Sicht der Nazis war Liesels Mutter eine Verliererin, denn man gab ihr das Mutterkreuz nicht, obwohl vier lebend geborene Kinder der Maßstab waren. In einem Dorf war so etwas eine Demütigung, man orientierte sich an der Gemeinschaft. Liesels Vater sah es als Versagen. Für ihn lag es an seiner Frau.

Liesel ist sieben, als der Krieg zu Ende ist. Erinnerungen daran hat sie wenig. Die Evakuierung nach Staufen kommt ihr in den Sinn. „Auf einen Anhänger war ich gepfercht zusammen mit den Hühnern.“ Das Dorf liegt unweit des Rheins. Von Frankreich aus wurde über den Fluss geschossen.

Wahrgenommen hat Liesel das Ausmaß des Ungeheuerlichen damals vor allem im Flüstern der Großen. Wenn die Erwachsenen sich etwas zuraunten. Hast du gehört? Der auch? Die arme Rosa, beide Söhne. Wir müssen bei ihr vorbeigehen. Wir müssen für sie beten. Gefallen im Krieg. „Gefallen?“ – für Liesel hörte sich das nicht so schlimm an. Manchmal beobachtete Liesel auch, wie ihre Mutter die Fotos ihrer Söhne in die Hand nahm, die Bilder lange betrachtete und verstummte. Niemand wusste, ob sie noch lebten. Vor allem von ihrem jüngsten Sohn hörte sie lange nichts.

Als der aus der zweijährigen Gefangenschaft kommt, ist er krank, Leber und Niere funktionieren nicht mehr, er hat einen Wasserkopf. Liesel schlägt ihm die Tür vor der Nase zu, als er anklopft. „Das ist nicht unser Ernst“, schreit sie. Ernst, ein kleiner junger Mann, war ganz zum Schluss des Krieges noch eingezogen worden und nach ein paar Tagen zusammen mit einem Kumpel desertiert, er nannte es „abhauen“, er sei abgehauen, weil er „nicht so fürs Kaputtmachen war“.

Liesel als Schülerin Foto: privat

Die beiden irrten im Wald umher und wurden kurz darauf von französischen Soldaten gefangen genommen. Ernst hatte Haltung gezeigt, so jung wie er war. Darüber gesprochen wurde nie. „Schreib nicht ‚desertieren‘“, sagen meine Brüder, die heute noch im Dorf leben, das könne negativ verstanden werden. Es gibt keine Worte für Heldentum.

Aber eigentlich kann man sagen, Liesel hatte trotz allem eine schöne Kindheit. Gut, die Armut. Gut, der, strenge, mitunter unberechenbare Vater. Aber die Mutter ist sanft.

Nach der Volksschule geht Liesel zur Haushaltsschule, ist Dienstmädchen bei fremden Leuten und „für 40 Mark im Monat Praktikantin in einem Entbindungsheim“. Wiewohl nicht lange. Ihr Vater hat andere Pläne. Er will, dass sie nach Hause kommt, sie werde gebraucht.

Die Sechziger, das Leben wird heiß

Die Fünfzigerjahre gehen zu Ende, sie ist 20, den Menschen geht es besser. Sie soll sich nicht bei fremden Leuten verdingen müssen, in der Familie gebe es auch Arbeit. Auf dem Dorf haben alle noch ein paar Äcker, ein paar Reben und Schweine im Stall. Arbeit gibt es immer.

Fortan lebt Liesel wieder zu Hause, arbeitet auf den Feldern und in den Weinbergen, singt im Kirchenchor, macht beim Laientheater mit. „Immer musste ich die Magd spielen“, habe sie sich mal beschwert, erzählt eine Freundin von ihr. Liesel hat ein Gespür für Abwertung und sie spricht es aus.

Eine Kapelle in Liesels Heimat, sie engagiert sich oft auf Kirchenfesten Foto: Eric Vazzoler

In einem der Theaterstücke, die auf der Bühne in der kleinen Aula der Dorfschule aufgeführt werden, spiele ich mit. Ein Kind wurde gebraucht, Liesel passt auf mich auf. „Heimweh am Wolgastrand“ heißt das Stück. Der vermisste Sohn kommt an einem Weihnachtstag blind aus der Gefangenschaft zurück.

Liesel ist bei allem dabei, für alles zu begeistern. Sie feiert gern, trinkt gern ein Gläschen Wein, nie zu viel, beschwipst habe ich sie nie erlebt. Sie hilft, bringt sich bei Kirchenfesten ein, bedient auf Dorffesten, ist Serviererin in Gaststätten der Umgebung. Und sie wird umworben. Es sind die ausgehenden Fünfzigerjahre.

Und dann die Sechziger, das Leben wird heiß. Mehr Männer haben nun ein Auto. In manchen Wohnzimmern steht schon ein Fernseher. Da weht der Wind unter die Röcke der jungen Frauen in den Filmen, den Doris Days, den Marilyn Monroes. Bis die Pille ein Thema hinter vorgehaltener Hand wird, dauert es noch.

Der Pfarrer hatte ihr und den anderen Mädchen eingebläut: Unberührt ins Ehejahr oder auf die Totenbahr. Wird sie tot umfallen, wenn sie sich nicht daran hält?

Trotzdem. Irgendwie erreicht die sexuelle Revolution auch das Dorf, wenngleich auf eine verbogene Art, denn man kannte sich ja. „Du kennst mich doch“ und „Ein Küsschen ist nicht verboten“ – solche Sprüche. Auf Sex vor der Ehe wurde unverhohlener gedrängt. Die Männer waren die Drängler. Und die Frauen hatten nicht gelernt zu sagen, was ihnen gefällt. „Stimmt“, sagt Liesel, als ihr dieser Text in der Rohfassung vorgelesen wird. „S’isch d’Wooret“ – es ist die Wahrheit. Dann müsse man es auch sagen dürfen.

Man spricht Alemannisch im Dorf. Wurde eine unverheiratete Frau schwanger, war die Frau schuld. Noch Anfang der Siebzigerjahre mussten junge Frauen auf dem Land mitunter die Schule verlassen, wenn sie ein Kind erwarteten. Liesels Probleme jedenfalls wurden immer größer. Der Pfarrer hatte ihr und den anderen Mädchen eingebläut: „Unberührt ins Ehejahr oder auf die Totenbahr.“ Wird sie tot umfallen, wenn sie sich nicht daran hält?

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Egal wie, sobald einer mehr wollte als Turteln, wies sie ihn ab. Einen wies sie auch ab, weil er sehr sanft war, wie sie erzählte. „Das wäre nichts geworden. Er wäre immer kleiner geworden.“ Sie wusste um ihre Vehemenz.

Ihrem Vater passte sowieso keiner. Die Liesel, das war seine. Nach seiner Pfeife musste sie tanzen. „‚Wenn ich gestorben bin, kannst du dir einen Witwer mit sieben Kindern nehmen‘, hat er zu mir gesagt.“ Aber Liesel war auch eigensinnig. „Den Führerschein habe ich hinter seinem Rücken gemacht.“ Damals fuhren nur wenige Frauen auf dem Dorf Auto. Sie spürt früh, was sie so ausdrückt: „Ich musste Mann und Frau in einem sein.“

Denn je älter Liesel wurde, desto mehr nahm die alleinstehende Frau, die sie am Ende war, Kontur an. Was das bedeutete, war klar. Als Ledige war eine Frau nicht sonderlich angesehen. Sie ist die, die durch die Abwesenheit eines Mannes definiert wird. Eine „alte Jungfer“. Ein „Mauerblümchen“. Ein „spätes Mädchen“. Ein „Ripp“. All das wollte Liesel nicht sein.

Noch im hohen Alter arbeitet sie im Weinberg, singt im Chor und spielt Theater Foto: pribat

„Bist ja doch nur ein Ripp“, sagte mein Großvater einmal zu mir. Du bist ja doch nur eine Rippe. Die Rippe Adams ist gemeint. „Stimmt, das wurde gesagt“, meint Liesel.

Je stärker sich für Liesel eine Zukunft als Ledige verfestigt, desto energischer wird sie. Sie verlangt unbedingten Respekt von uns Kindern. Wenn wir bei ihr hereinschneien – das Elternhaus ist doch direkt nebenan – und nicht zuerst herzlich grüßen, und zwar in der vorgegebenen Reihenfolge, erst Opa, dann Oma, dann Ernst, der ebenfalls ledig bleibt, aber das ist kein Problem, dann schimpft sie, was uns einfiele, hereinzuschneien, etwas zu wollen, „Grüßt erst einmal“.

Wenn wir „Hallo“ sagen, reicht ihr das nicht. „‚Hallo‘, was soll des sein? „Simma nur ä Ächo, simma keini Lit?“ – Sind wir nur ein Echo, sind wir keine Menschen? Sauer ist sie auch, wenn ich nicht „Gotti Liesel“ zu ihr sage, sondern „Tante Liesel“ – sie ist doch meine Patin. „Ich wirr nit äschdemeert. Nit ämool fu dä eigene“, sagt sie. Hochdeutsch würde man sagen: Ihr zollt mir keine Wertschätzung, obwohl ihr doch meine Familie seid.

Da ist also diese Tante, die, je älter sie wird, bei allem gern das Sagen haben will, energisch und fordernd. Diese Tante, die einen anfährt, wenn wir etwas ihrer Meinung nach nicht richtig gemacht haben. Die uns, wenn wir ihre Hilfe brauchen, erst einmal ausschimpft, weil wir nicht angeklopft hatten, nicht „Danke“ oder „Bitte“ sagten, ungefragt Tomaten aus dem Korb vor ihrer Haustür nahmen oder sie am Tag zuvor auf der Straße nicht grüßten. Ihre Tiraden konnten ausufern. Plötzlich schien es, als grüßten wir nie.

Sie spürt früh, was sie so ausdrückt: Ich musste Mann und Frau in einem sein

Wobei wir uns darauf verlassen konnten, dass sie uns hingebungsvoll hilft, wenn die Standpauke fertig war. Liesel wurde eine Kommandantin, eine Majorin, ein Boss – vor allem im Umgang mit uns, ihren Nichten und Neffen, denn wir standen in der Hierarchie unter ihr.

„Singen tut mir gut“, sagt sie

Aber unvermittelt konnte ihr Gebieterton auch andere treffen, Nachbarn, Kinder auf der Straße, Verwandte. Dass sie in Wirklichkeit darum kämpfte, ernst genommen zu werden, habe ich lange nicht verstanden. „Ich wäre nicht da, wo ich bin, wenn ich nicht so energisch gewesen wäre“, sagte sie.

Viel länger noch habe ich gebraucht, bis ich verstanden habe, dass sie nicht nur um ihre persönliche Würde kämpfte, sondern dass sie um Anerkennung, um Würde und Respekt für das Lebensmodell als ledige Frau im Dorf gekämpft hat. Und indem sie dafür gekämpft hat, hat sie es nicht nur für sich getan, sondern für alle Frauen – auch für ihre Nichten, auch für mich. Es ist ihr Vermächtnis. Heute ist Ledigsein keine Erniedrigung mehr.

Dabei war ihr Traum doch ein anderer gewesen. Einmal sprach sie es aus. „Ich hätte auch gerne eine Familie und Nachwuchs gehabt“, sagte Gotti Liesel.

In ihrem Nachttisch lag ein Stapel Arztromane. Ich weiß das, weil ich heimlich in ihrem Zimmer, das nicht unten im Elternhaus war, sondern oben bei uns im hinteren Flur, wo auch das Telefon hing, „gebaust“ habe. „Bausen“ – herumstöbern. Immer sinkt die Frau, die im Groschenroman die Krankenschwester ist, am Ende in die Arme eines Mannes, des Arztes.

Statt Mann, Familie und Nachwuchs bekommt Liesel mit der Zeit ein ganzes Dorf. Alle kennen sie, mit allen redet sie. Und je älter sie wird, desto häufiger fließen auch mildere Töne mit ein. Viele Leute schauen bei ihr vorbei. Mit anderen Frauen spielt sie Zego, ein Kartenspiel, das man in Süddeutschland kennt. Und sie singt im Kirchenchor – mehr als 70 Jahre. „Singen tut mir gut“, sagt sie. Auf Festen liebt sie es, lustige Gedichte aufzusagen, sich zu verkleiden, Leute zum Lachen zu bringen.

„Wo Liesel ist, ist es lustig“, erzählt ein Cousin. Ihm kommen vor allem Szenen an der Traubenwaage in den Sinn, wenn im Herbst das Gewicht und die Öchsle, der Zuckergehalt der Trauben, gemessen werden. Liebevoll umsorgt Liesel auch ihren ledigen Bruder Ernst, so hatte ihr Vater es von ihr verlangt. Ernst wohnte noch im Elternhaus. Sie selbst zog irgendwann aus. Ihr Vater, so gebieterisch er auch war, hatte doch dafür gesorgt, dass sie ein eigenes Haus hat.

Bei allem, was Liesel anpackt, ist sie hingebungsvoll. Und leidenschaftlich. Bis vor wenigen Jahren sammelte sie Geld für die Kriegsgräberfürsorge. Sie sagt, sie habe es aus Dankbarkeit getan, weil ihre zwei Brüder lebend aus dem Krieg zurückgekommen sind. Sie ging von Haustür zu Haustür im Dorf und erinnerte die Leute auf ihre forsche und gleichzeitig lustige Art daran, was für eine Ungeheuerlichkeit der Krieg ist. Auf diese Weise kämpfte sie für den Frieden, der ihr am Herzen lag.

Dass Liesel schon lange allein lebt, macht ihr nichts aus. Sie hat ihren Garten. „Ich gartne gern“, sagt sie. Manchmal sagt sie auch „Ich gartle“. Blumen sind ihr Ein und Alles. Überall im Haus und Flur stehen Clivien – ihre Lieblingsblume. Wie verrückt leuchten die orangefarbenen Blüten jedes Jahr. Einmal hat sie mir eine geschenkt – sie überlebte nicht lange.

Auch Gemüse und Obst aus dem Garten verschenkt sie großzügig. Verpachtet allerdings hat sie mittlerweile ihre Reben, weil es ihr zu anstrengend wurde. Über die Monokulturen auf den Feldern, die direkt hinter ihrem Haus beginnen, ist sie entsetzt. „Mais, wohin ich schaue. Sogar am Ackerrand. Da wächst kein Grashalm, Schmetterlinge sehe ich auch keine mehr.“

Liesel liebt die Natur über alles. Dass wir so schlecht mit ihr umgehen, damit ist sie nicht einverstanden und es bekümmert sie sehr. „Ich wähl den Habeck, der ist für die Natur“, sagte sie vor der Bundestagswahl im Februar. „Dabei habe ich früher in den Reben auch Gift gespritzt. Ohne Schutz.“ Damals sei gesagt worden, das Teufelszeug sei das Beste. „Aber man darf nicht alles glauben“, meint sie, die sich doch vehement gegen eigene Glaubenszweifel wehrt. „Was kommt danach?“ fragte sie mich. Ich weiß keine Antwort. „Niemand weiß es“, sagt sie.

Es hätte immer weitergehen können. Wir hielten Gotti Liesel für unsterblich. Dann kam der Krebs, ein Sarkom. Steter Kontakt mit Unkrautvernichtungsmitteln und Pestiziden soll die Erkrankung begünstigen. Alle finden es unfair, dass Liesel jetzt krank ist. „Sie hat es nicht verdient“, sagen die Leute im Dorf. Und sie sagt: „Du glaubst gar nicht, wie viele ich bei der Bestrahlung in der Uniklinik kenne.“ Sie zählt all die Bekannten aus den Nachbardörfern auf, die Krebs haben wie sie. Die Gemeinschaft der Betroffenen trägt sie mit. Da ist sie eine Gleiche.

Gegen die Krankheit kämpft Liesel seit mehreren Jahren. „Ich lass mich nicht klein kriegen“, sagt die 1,45 Meter große Frau, „ich bin Optimist.“

Jetzt ist sie gestorben.

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2 Kommentare

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  • Durch diesen Artikel kann ich mir gut vorstellen, wie es war, damals, auf dem Dorf im Südwesten, wenn ich auch nicht viel jünger bin als die Tante.

  • Berührend. Danke, Waltraud Schwab.