Kybernetiker über Klimawandel: „Wir glauben lieber an Wunder“
In Yokohama wird über den Bericht des Klimarates der UN beraten. Wolfram Lutterer über unterschiedliche Sichtweisen und die Wahrheit.
taz: Herr Lutterer, Gregory Bateson, ein Kybernetiker, Ethnologe und Philosoph, mit dessen Werk Sie vertraut sind, beschreibt eine Information als „einen Unterschied, der einen Unterschied ausmacht“. Betrachtet man die Versuche Lobby-unterstützter Wissenschaftler, die Ergebnisse des IPCC, also des Klimarats der Vereinten Nationen, zu torpedieren, fragt man sich: Gibt es denn stets mehrere Aspekte einer Tatsache?
Wolfram Lutterer: Ja, sicher. Die Berücksichtigung unterschiedlicher Perspektiven ist grundsätzlich wichtig. Denn jedes von uns beobachtete Phänomen lässt verschiedene Beschreibungsweisen zu. Gregory Bateson würde sogar sagen: „Zwei Beschreibungen sind besser als eine.“
Aber was heißt das für die Klimaforschung?
Hier steht nun zunächst einmal Aussage gegen Aussage. Also unentschieden? Doch ganz so einfach ist das natürlich nicht. Wir sollten diese Aussagen hinsichtlich ihrer möglichen Konsequenzen reflektieren. Und da ergibt sich eine sehr eindeutige Asymmetrie: Wenn die Leugner des Klimawandels recht haben, dann mühen wir uns sinnlos ab, machen aber vielleicht trotzdem ein paar interessante Innovationen. Liegt hingegen der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) näher dran, dann können sich offenbar Phänomene ereignen, die man sich nicht wirklich wünschen kann. Ich höre also beiden Seiten erst einmal zu, entscheide mich dann jedoch klugerweise eher für die Aussagen des IPCC mitsamt all ihrer Wahrscheinlichkeitsannahmen. Das ist einfach eine gesunde Skepsis.
Was ist hier Zweifel? Und was ist Skepsis?
Offenbar treiben einige Skeptiker des Klimawandels ein recht perfides Spiel mit wissenschaftlichen Aussagen. Warum? Kein ernsthafter Wissenschaftler kann eine Hypothese als wahr bezeichnen, es bleibt immer eine Wahrscheinlichkeit. Wir klammern uns leider alle viel zu sehr an das Sicherheitsversprechen, das eben dieser Wahrheitsbegriff bedient.
Die Wissenschaft findet demnach keine Tatsachen – sie erfindet sie. Stimmt das?
Genau genommen erfindet die Wissenschaft nichts als Beschreibungen. Und diese sind mal besser, mal schlechter; leider auch mal falsch oder zumindest fehlerhaft. Das Bestreben der Wissenschaft zielt auf eine möglichst passende und nachvollziehbare Beschreibung ab. Was man sich hierbei jedoch nur selten vor Augen hält: Es gibt eine Asymmetrie von Wahrem und Falschem. Wahrheit als solches kann es eigentlich nicht geben. „Wahrheit“ ist die Erfindung eines Lügners, das beobachtet bereits der berühmte Kybernetiker Heinz von Foerster.
ist Autor und Bereichsleiter an der Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, lehrte an der Universität und PH Freiburg und forscht im Kontext reflexiver Kybernetik. Veröffentlichungen: „Der Prozess des Lernens“ (2011), „Gregory Bateson. Eine Einführung“ (2009).
Ein Beispiel: 2 + 2 = 4. Das ist eine einfache mathematische „Tatsache“. Wenn aber vier Menschen miteinander kooperieren, dann entsteht etwas anderes und die ganze Mathematik hilft nicht mehr weiter. Was also ist „wahr“? Trotzdem brauchen wir die Vorstellung von ihr – als eine Art regulativer Idee, als erstrebenswertes Ziel. De facto aber versuchen wir uns an einem abnehmendem Grad von unzutreffenden Annahmen.
Wie betrachtet ein Kybernetiker den IPCC-Bericht?
Der IPCC-Bericht argumentiert auf einem ausgesprochen reflektierten Niveau. Gerade weil er von Wahrscheinlichkeiten und nicht von Gewissheiten spricht. Das macht es für seine Kritiker natürlich einfacher. Letztlich zeigt er aber, dass unser bisheriges Denken uns in eine Sackgasse geführt hat. Und im Moment weiß niemand so recht, wie wir da wieder gut herauskommen. Für einen Kybernetiker ist jedenfalls fatal, wenn alles nur darauf abzielt, eine einzige Variable zu optimieren – etwa die Wirtschaft. Das kann langfristig so nicht funktionieren und das ist mittlerweile vielen klar.
Warum ändern wir nichts? Können oder wollen wir nicht?
Das Schwierige ist, dass wir in Denkweisen festsitzen, die wir schon früh in unserem Leben eingeübt haben. Diese bleiben zwar veränderbar, aber das erfordert ganz eigene lernerische Anstrengungen, die über das übliche „besser“, „schneller“ und „mehr“ hinausgehen. Wir müssen nach Bateson – und nach vielen anderen Denkern – lernen, vor allem anders zu denken.
Worin sehen Sie das Potenzial von etwa zirkulärem (Rückkopplungen einbeziehenden) statt „einfachem“ kausalen Denken in Bezug auf Nachhaltigkeit?
Das Problem mit komplexeren Denkfiguren ist ja leider zweierlei: Zum einen sind sie anspruchsvoller, zum anderen kommt man damit nicht mehr so schnell zu den ach so attraktiv erscheinenden einfachen Kausalschlüssen. Wir lassen uns schlichtweg zu gern von einfachen Lösungsversprechungen einlullen. Wir glauben lieber an Wunder anstatt dass wir etwas verändern.
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