Kurswechsel bei Corona an Schulen: Keine Frage der Inzidenz
In sechs Bundesländern ist das neue Schuljahr angelaufen. Prompt steigen die Infektionen – vor allem in NRW. Die Ministerien sehen kein Problem.
„Wir haben Infektionen in allen Schulformen“, sagt Stadtsprecherin Martina Eckermann der taz. Allein von Montag bis Mittwoch vergangener Woche habe es an 77 der knapp 100 Schulen Infektionsfälle gegeben. Bei etwa 400 Schüler:innen sei der Schnelltest vor Unterrichtsbeginn bereits positiv ausgefallen – fast jede:r Zehnte, der in Wuppertal zur Schule geht. Die hohen Zahlen erklärt Eckermann mit den Reiserückkehr:innen – und der hochansteckenden Deltavariante.
Das letzte Mal, als Wuppertal über die 200er-Inzidenz gelangte, im April, schickte der Krisenstab alle Schüler:innen in den Distanzunterricht, verhängte eine Ausgangssperre ab 21 Uhr und erlaubte Einkäufe nur mit Termin. Und heute? „Wir überlegen, die 2G-Regel bei Großveranstaltungen anzuwenden“, sagt Eckermann. Und um die Infektionen an Schulen zu reduzieren, wolle man bei der Landesregierung eine Freigabe erhalten, dass auch 12- bis 15-Jährige sich an ihren Schulen impfen lassen können – nicht nur Schüler:innen ab 16. Wechsel- oder gar Distanzunterricht ist kein Thema.
„De facto keine schweren Verläufe“
Damit liegt die Stadt voll auf Linie von Nordrhein-Westfalens schwarz-gelber Landesregierung. Obwohl die vierte Welle in dem Land so heftig tobt wie nirgends sonst, hält Familienminister Joachim Stamp (FDP) Präsenzunterricht für sicher. Es gebe bei den Unter-12-Jährigen, die derzeit nicht geimpft werden können, „de facto keine schweren Verläufe“, sagte Stamp dem Deutschlandfunk.
Auch Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) sagte der Rheinischen Post: „Dass die Infektionen zum Schulstart steigen würden, war erwartbar. Und da die Inzidenz in NRW über 100 liegt, gilt es, das Geschehen auch weiter genau zu beobachten“ Mit „Maskenpflicht im Unterricht, hochwertigen und optimierten Testverfahren sowie Impfangeboten an Schulen“ sei aber auch ein „inzidenzunabhängiger“ Schulbetrieb möglich, so Gebauer.
Ob sie damit recht behält, zeigt sich wohl schon bald. Anfang der Woche will das Schulministerium erste Zahlen veröffentlichen, wie viele Schüler:innen seit dem Ferienende in Quarantäne mussten – und wie viele sich in der Schule mit Covid-19 infiziert haben. Sind es sehr viele, dürfte die Debatte, wie sicher die Schulen unter der Deltavariante sind, wieder hochkochen.
Infektionszahlen an den Schulen bisher überschaubar
Bisher ist das Schuljahr vergleichsweise geräuschlos angelaufen – von dem Hin und Her um die Ausstattung der Klassenräume mit Luftfiltern mal abgesehen. Die Zahlen aus den fünf Bundesländern, deren Schulstart schon vor dem in NRW lag, geben vorerst wenig Grund zur Aufregung.
In Schleswig-Holstein etwa belaufen sich die nachgewiesenen Coronafälle an Schulen seit Anfang August auf knapp 5.500, darunter rund 350 Infektionen bei Lehrkräften. Klingt viel, gerechnet auf landesweit 363.000 Schüler:innen machen die Infizierten aber nicht mal 1,5 Prozent aus. Zudem stagnierten nach der zweiten Schulwoche die Neuinfektionen, in der vierten lagen sie gar deutlich niedriger. „Wir sind sehr erfolgreich in das neue Schuljahr gestartet“, sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) deshalb vergangenen Mittwoch im Kieler Landtag.
Auch in Hamburg sind trotz der gestiegenen 7-Tage-Inzidenz aktuell nur 78 von 9.500 Schulklassen von Quarantänemaßnahmen betroffen. Seit dem Schulstart am 5. August sind nur 815 der rund 200.000 Schüler:innen sowie 30 Schulbeschäftigte an Covid-19 erkrankt, so ein Sprecher der Schulbehörde. Die „allermeisten“ Infektionen seien bereits im privaten Umfeld passiert – etwa durch Reiserückkehr:innen. Schulsenator Ties Rabe (SPD) fühlt sich so sicher, dass er künftig nur mehr unmittelbare Sitznachbar:innen in Quarantäne schicken möchte – wie es NRW oder Brandenburg längst empfehlen.
In Berlin keine Quarantäte mehr für Kontaktpersonen
Noch weiter geht der Berliner Senat. Hier soll in Kitas und Schulen nur noch in Quarantäne, wer positiv getestet wurde. Vergangene Woche waren das 917 Schüler:innen berlinweit – 0,27 Prozent der Gesamtschülerzahl. 87 Lerngruppen befinden sich noch in Quarantäne. Nach den neuen Regeln werden es ab dieser Woche null sein.
Bei Eltern ist dieser Weg umstritten – Mediziner:innen halten ihn für durchaus gerechtfertigt. „Bisher orientierten sich alle Maßnahmen in den Schulen an der Maxime, möglichst jede Infektion im dortigen Kontext zu verhindern“, schreiben der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin, Jörg Dötsch, der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig und weitere Wissenschaftler in einem Gastbeitrag für Die Zeit. Inzwischen hätten sich die Grundbedingungen der Pandemie geändert, sodass dieses Prinzip auf den Prüfstand gestellt gehöre.
Auch Brandenburgs Bildungsministerin Britta Ernst (SPD) spricht von neuen Rahmenbedingungen. „Dass es immer wieder einmal eine Quarantäne einzelner Klassen und Lerngruppen und damit Distanzunterricht gibt, lässt sich nicht ausschließen“, sagt Ernst der taz. Knapp 3.000 Schüler:innen sind derzeit brandenburgweit in Quarantäne – etwa ein Prozent der Schülerschaft. Zwar ist die Zahl der positiv getesteten Schüler:innen vergangene Woche von 200 auf 268 leicht gestiegen. Einen erneuten Herbstlockdown schließt Ernst aber so gut wie aus. Das neue Schuljahr werde „anders als das vergangene“ verlaufen. Erstens sei es „nicht notwendig, dass Kinder und Jugendliche durch Kontaktvermeidung Erwachsene schützen“ müssten. Zweitens gebe es nun, anders als vor einem Jahr, die Möglichkeit des Testens und Impfens.
Ein Fünftel der 12- bis 17-Jährigen ist geimpft
Tatsächlich ist laut Robert Koch-Institut mittlerweile jede fünfte Person zwischen 12 und 17 Jahren vollständig geimpft. Weit vorne dabei übrigens: NRW. Seitdem die Ständige Impfkommission (Stiko) Mitte August auch für 12- bis 17-Jährige eine Impfung empfahl, haben die Länder ihre Kampagne an Schulen ausgeweitet. Hamburg startete am Freitag mit Impfungen an der größten Stadtteilschule. Schulsenator Rabe forderte die Eltern auf, sich gegebenenfalls gleich mitimpfen zu lassen. Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern hatten bereits vor der Stiko-Empfehlung Impfungen an Schulen angeboten – mit zunächst verhaltenem Interesse. In Schleswig-Holstein hatten sich 10.500 Jugendliche für eine Impfung angemeldet, in Mecklenburg-Vorpommern 1.800.
Wolfgang Hoffmann von der Universitätsmedizin Greifswald hält das Angebot, an Schulen zu impfen, dennoch für richtig. „Wir sollten das Impfen empfehlen und auch an den Schulen impfen“, sagt Hoffmann der taz. Der Epidemiologie hält aber für entscheidender, dass die Erwachsenen im Umfeld der Schulen geimpft sind – also Eltern und Lehrkräfte.
Seit Beginn der Pandemie berät Hoffmann die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern. In mehr als 70 Schulen haben Hoffmann und sein Team die Umsetzung der Schutz- und Quarantänemaßnahmen überprüft. Zusammen mit der Universitätsmedizin Rostock untersuchten sie, wie häufig es an Schulen zu Ausbrüchen kommt. Das Ergebnis: sehr selten. „Das höchste Ansteckungsrisiko ging bislang von den Lehrkräften und erwachsenen Mitarbeitern der Schulen aus“, so Hoffmann. Da nun ein Großteil der Lehrkräfte geimpft sei, vermindere sich das Ansteckungsrisiko für Schüler:innen deutlich.
Zudem zeigen die Daten, dass selbst die ansteckende Deltavariante sehr selten zu Folgefällen an Schulen führt. In Mecklenburg-Vorpommern sind laut Landesamt für Gesundheit und Soziales derzeit 95 Coronafälle an 47 der 615 Schulen bekannt – allerdings liegt die 7-Tage-Inzidenz mit knapp über 30 auch eher niedrig.
Experte empfiehlt: viel testen
Laut Mediziner Hoffmann sind die Schulen aber auch bei einer 7-Tage-Inzidenz von 200 sicher, sofern alle die Masken- und Testpflicht ernst nähmen. Für den Herbst empfiehlt er: noch mehr testen, bei hohen Inzidenzen notfalls täglich. Die beste Methode dafür sei der etwas teurere PCR-Test – der aber günstiger als Pool-Test eingesetzt werden kann.
Von den fünf Ländern, die kommende Woche aus den Schulferien zurückkommen, wollen Sachsen-Anhalt und Hessen zunächst dreimal die Woche testen, Niedersachsen sogar täglich. Einig sind sie sich aber darin, dass auch bei steigenden Infektionen keine Schulen geschlossen werden sollen. So wie in Wuppertal.
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