Künstler aus Island: Durchatmen und sich besser fühlen
Jede seiner Arbeiten ist ein frischer Versuch, in Leben und Umwelt höhere Bedeutung zu finden. Hreinn Friðfinnsson wird in Berlin wiederentdeckt.
1972 veröffentlichte der isländische Künstler Hreinn Friðfinnsson in der kurzlebigen holländischen Kunstzeitschrift Fandangos eine Anzeige mit der Bitte, man möge ihm persönliche Geheimnisse schicken. Reaktionen blieben damals aus. Erst als Hans Ulrich Obrist 2009 die Anzeige erneut in seiner Zeitschrift Point d’Ironie veröffentlichte, bekam er Zuschriften.
Der Künstler hatte allerdings nicht die Absicht, diese Offenbarungen zu lesen, geschweige denn, sie künstlerisch bekannt zu machen. Geheimnisse sollen schließlich geheim bleiben. Er bewahrte die verschlossenen Briefe in einem Karton auf, und als genug zusammengekommen waren, jagte er sie durch einen Schredder und presste daraus eine quadratische Platte, die nun in den Berliner Kunstwerken mitten im Raum installiert zu betrachten ist.
Dass es noch Leute gibt, die ein Geheimnis für sich behalten können, ist in einer Zeit, in der Unternehmen wie Facebook und Google aus der Monetarisierung unserer persönlichsten Informationen ein lukratives Geschäftsmodell gemacht haben, irgendwie beruhigend.
Hreinn Friðfinnsson scheint als Künstler durchgehend uninteressiert an übermäßiger Vermarktung und Popularisierung seines Werks geblieben zu sein. Die Berliner Ausstellung, die zusammen mit dem Centre d’Art Contemporain in Genf entwickelte wurde (und für die auch ein „Catalogue raisonné“ erstellt wurde), ist die erste Retrospektive des inzwischen 76-Jährigen – trotz einer Ausstellung an der Serpentine Gallery in London 2007 und der Teilnahme an internationalen Ausstellungen wie dem Skulpturenprojekt Münster. Und man müsste sie „sensationell“ nennen, wenn sich solche aufdringlichen Begriffe für so eine leise, konzentrierte Ausstellung nicht verbieten würden.
Keine lauten Ansagen
Hreinn Friðfinnsson vermeidet in seiner Kunst laute Ansagen und aufmerksamkeitsstarke Effekte. Aber aus einem Pappkarton und ein bisschen buntem Karton eine Wandskulptur bauen, vor der man niederknien möchte, das kann er. Aus einigen Stücken Maschendrahtzaun, aus denen er kleine Muster geschnitten hat, entsteht an einer Wand vor dem geistigen Augen des Betrachters ein Palast (Palace, 1990–2019). Die gesammelten Holzstöcke, mit denen er im Atelier seit 1991 seine Farben angerührt hat, sind an zwei Wänden angeordnet und nun eine Lichtung (Clearing, 1991–2019). Man atmet einmal durch, saugt die frische Luft tief in die Lunge ein und fühlt sich sofort besser.
Die Inspiration des isländischen Künstlers sind Alltagsgegenstände, oft Fundstücke aus der Natur. Auch wenn viele seiner Arbeiten gestenhaft und wie die Umsetzung jäher Eingebungen erscheinen, sind sie immer zu Ende gedacht. Sie verwandeln Unscheinbares in Bedeutsames, Triviales in Meditationen über letzte Fragen.
Selbst wenn Hreinn Friðfinnsson in einer kleinen Videoarbeit seine Hand am offenen Fenster im Dämmer vor eine Kerze hält, wird daraus „der Schatten einer linken Hand, der aus einem kleinen Zimmer auf eine Reise in die Unendlichkeit geschickt wird“. Und die Spinnweben aus seinem Atelier finden sich als „Atelier Sketch“ (1990–2012) im kleinen Rahmen wieder.
Hreinn Friðfinnsson wuchs in einem abgelegenen Dorf in Island auf, in dem das einzige Bild die Reproduktion eines Ölgemäldes in der Wohnung des Pfarrers war. Über zeitgenössische Kunst las er, lange bevor er sie zu sehen bekam. Die Erfahrung, dass eine Zeile Text im Kopf ein Bild erzeugen kann, mag ihn für die Konzeptkunst geöffnet haben.
Zeitweise hütete er Schafe
Aber auch wenn viele seiner Arbeiten Text enthalten oder nur aus Text bestehen, geht ihnen das Dogma und die Hartnäckigkeit ab, mit der viele der US-Konzeptkünstler einen einmal entwickelten Ansatz ein Leben lang durchexerziert haben. Hreinn Friðfinnsson hat nie zu einem Stil oder einer Bildsprache gefunden und wollte es offenbar auch nicht. Jede seiner Arbeiten ist ein neuer und frischer Versuch, in Leben und Umwelt höhere Bedeutung zu finden. Oder wenigstens eine Quelle der Freude.
Als zeitweiliger Schäfer hatte der Künstler viel Zeit, sich in die Natur und ihre langsamen Modifikationen der Umwelt zu vertiefen. 1974 baute er in einem abgelegenen Gegend in Island eine kleine Hütte, deren Tapeten und Gardinen sich an den Außenwände befinden. Durch die Fenster des Häuschens guckt man in ein Außen von ein paar Quadratmetern, der Rest der Welt ist unsere Behausung. Außer einem befreundeten Dichter hat niemand die Hütte je von innen gesehen.
Hreinn Friðfinnsson: To Catch a Fish with a Song 1964–Today; KW Institute for Contemporary Art, bis zum 5. Januar 2020
Im Interview im Ausstellungskatalog betont Hreinn Friðfinnsson, der seit 1971 in Amsterdam lebt, immer wieder den Einfluss, den isländische Naturmythologie und Sagen auf seine Kunst gehabt haben. Die „Five Gates for the South Wind“ entstand an einer Stelle an der isländischen Küste, an der der Südwind die fünf Holztore auf-und zuschlagen konnte. Die Arbeit überließ der Künstler nach Aufbau der Natur und kehrte nie wieder zu ihr zurück. Da wundert es nicht, dass Ólafur Elíasson den Künstler als eine seiner wichtigsten Inspirationen nennt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!