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Kristen Ghodsee über Care-Arbeit„Ein anderes Wertesystem“

Care-Arbeit müsse staatlich organisiert werden, sagt Kristen Ghodsee. Die Professorin für Osteuropäische Studien im Gespräch über Profit, Sex und Feminismus.

Zwölf Milliarden Stunden Fürsorgearbeit leisten Frauen weltweit täglich Foto: Lucy Lambriex/Getty Images
Juli Katz
Interview von Juli Katz

taz: Frau Ghodsee, täglich leisten Frauen und Mädchen unbezahlt über zwölf Milliarden Stunden Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit. Wenn sie einen Mindestlohn bekommen würden, wären das 11 Billionen US-Dollar pro Jahr. Das hat eine Studie der Hilfsorganisation Oxfam hochgerechnet. Kam die Info überraschend für Sie?

Kristen Ghodsee: Nein, überhaupt nicht. Ich bin froh, dass westliche Organisationen endlich darüber nachdenken und darauf aufmerksam machen – immerhin haben August Bebel und Friedrich Engels schon vor über 150 Jahren darüber geschrieben: Care-Arbeit ist so grundlegend für die Gesellschaft, dass diese auch endlich etwas dafür tun sollte, sie besser zu organisieren. Unsere Regierungen bezahlen schließlich auch Soldat*innen. Wieso sollen sie nicht diejenigen unterstützen, die die nächste Generation von Bürger*innen aufziehen?

Wie kann das funktionieren?

Care-Arbeit sollte meiner Meinung nach staatlich organisiert werden. Die russische Revolutionärin Alexandra Kollontai hat schon im späten 19. Jahrhundert vorgeschlagen, mehr kommunale Cafeterias, öffentliche Waschsalons, Kindergärten und -krippen zu schaffen. Erst durch solche Strukturen werden Mutterschaft und Karrieren miteinander vereinbar. Das könnten viele Frauen erheblich ent­lasten.

Inwiefern?

Frauen können sich ökonomisch unabhängig machen. In den USA sind Frauen immer noch mehrheitlich für Haushalt und Kinderpflege verantwortlich. Beruf und Familie zu vereinen, ist für sie deshalb oft schwierig.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Rund ein Viertel der unter 65-jährigen Frauen in den USA bekommt die Krankenversicherung vom Ehemann bezahlt. Wenn sich einige davon den Betrag nicht selbst leisten können, werden sie in diesen Beziehungen verharren müssen, auch wenn sie häusliche Gewalt oder Schlimmeres erleben. Sie haben dann keine freie Wahl mehr, über ihr eigenes Leben zu bestimmen. Deswegen ist mein Argument eigentlich ganz einfach: Wenn sich Frauen um ihre materiellen Nöte selbst kümmern können, können sie sich freier entscheiden.

Bild: Alina Yakubova/Suhrkamp Verlag
Im Interview: Kristen Ghodsee

Professorin für Russische und Osteuropäische Studien an der Universität Pennsylvania. Ihr Buch „Warum Frauen im Sozialismus besseren Sex haben“ erschien im Oktober 2019 in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp.

Das heißt aber nicht, dass die Frauen nicht anderen Problemen begegnen. Gerade Arbeitsverhältnisse sind selten frei von ­Sexismen.

Das ist ein Problem, das sich so schnell nicht lösen lässt. Wenn du einen Uterus hast, werden sich kapitalistische Arbeitgeber*innen immer Gedanken machen, ob du ihn benutzt – selbst wenn du keine Kinder willst. Das wird sich nicht verändern, solange biologisch gesehen nur eine Hälfte der Bevölkerung Babys bekommt.

Wieso?

Arbeitgeber*innen werten Frauen automatisch ab, weil sie denken, dass Mütter irgendwann eine Auszeit vom Berufsleben nehmen. Sie gelten dadurch als weniger zuverlässig und werden schlechter bezahlt, weil sie in dieser Logik einen geringeren ökonomischen Wert haben. So gesehen macht es Sinn, dass die Person, die finanzschwächer ist, zu Hause bleibt, um sich um die Familie zu kümmern.

Nicht jede Frau wird durch Arbeit ökonomisch unabhängig oder gar frei. Viele verdienen Geld, um überhaupt überleben zu können.

Natürlich ist nicht jede Arbeit befreiend, besonders wenn sie schlecht bezahlt wird und unter gefährlichen, menschenunwürdigen Umständen stattfindet. Das ist aber nicht nur für Frauen problematisch, sondern für alle Arbeiter*innen in einer kapitalistischen Gesellschaft. Wenn wir über Arbeit sprechen, müssen wir auch über strukturelle Probleme sprechen, die mit Race, Ethnizität und Klasse zu tun haben.

New Work war einmal der Begriff für eine sinnstiftende Arbeit. Wenn man dem Glauben schenken mag, können sich Frauen ihre Zeit freier einteilen, im Homeoffice arbeiten und sind so nicht mehr von starren Unternehmensstrukturen abhängig. Sind solche Konzepte die Lösung?

Auf keinen Fall. Die sogenannte Gig Economy, die daraus entstanden ist, sehe ich besonders kritisch – damit meine ich Arbeitskräfte wie Uber­fah­re­r*innen, Airbnb-Hosts und andere, die keine verlässlichen Arbeitsverträge und dementsprechende Rechte bekommen. Solche Arbeitsverhältnisse bringen Menschen in prekäre Positionen. Das gilt vor allem für Frauen. Ein Beispiel wäre die bezahlte Elternzeit. Von ihr können die Gig-Economy-Arbeiter*innen nicht profitieren, denn sie haben keinen Anspruch darauf. Dabei halte ich es für ein grundsätzliches Recht der Eltern, bezahlte Zeit mit dem eigenen Kind verbringen zu dürfen.

Was muss sich denn dann verändern, damit wir weniger ökonomische Ungerechtigkeit erfahren?

Dafür brauchen wir erst einmal ein anderes Wertesystem. Momentan leben wir in einer Welt, in der Profit mehr zählt als Menschenleben. Alles konzentriert sich auf ökonomischen Wachstum und unendliche Erweiterung des Markts für Konsumgüter, die wir überhaupt nicht brauchen.

Das heißt konkret?

Wir müssen eine bessere Lösung finden, Wohlstand zu messen. In Neuseeland zum Beispiel denkt man da schon um: Das Land orientiert sich mit dem sogenannten „Well-being budget“ am Wohlbefinden der Menschen. Das ist gut, denn Wohlstand darf nicht mehr nur für einige wenige gelten. Deswegen brauchen wir höhere Erbschaftsteuern und müssen Monopole aufbrechen.

Wieso sollten sich gerade Frauen dafür einsetzen?

Weil sie jeden Grund haben, einen politischen Wandel einzufordern. Schließlich sind sie ja auch diejenigen, die besonders davon betroffen sein werden. Wenn immer mehr Menschen krank oder alt sind, müssen sie gefüttert und gepflegt werden. Diese Aufgabe von Care-Arbeit wird auch in einer hyperkapitalistischen Zukunft auf ihren Schultern lasten. Wenn wir aber persönliche Freiheiten schaffen, indem wir ökonomische Unsicherheiten reduzieren, profitieren alle davon.

Sie forschen zu den Zusammenhängen zwischen Sozialismus und der ökonomischen Freiheit, die Frauen erfahren. Freiheit klingt aber sehr positiv, immerhin haben sozialistische Staaten einfach noch mehr Arbeitskräfte bekommen.

Ja, die Regierungen in der Sowjetunion und der Nachkriegsära in Osteuropa waren auf die Arbeitskraft von Frauen angewiesen, weil so viele Männer im Ersten Weltkrieg, im Sowjetischen Bürgerkrieg und im Zweiten Weltkrieg gestorben sind. Aber wir müssen uns auch daran erinnern, dass utopische Sozialist*innen wie Flora Tristan und Charles Fourier sich schon mit der Befreiung der Frau durch Arbeit beschäftigt haben, bevor sozialistische Staaten überhaupt existiert haben. In Deutschland haben unter anderem Clara Zetkin und Lily Braun darüber geschrieben, wie sich Arbeiterinnen im späten 19. und 20. Jahrhundert emanzipieren könnten. Diese sozialistischen Theo­rien konnten Frauen später nutzen, um sich für ihre Rechte einzusetzen. Klar kann man jetzt sagen, die sozialistischen Staaten wollten nur mehr Arbeitskräfte haben. Aber sie haben immerhin dafür gesorgt, dass die Frauen dadurch gelernt haben, für Veränderungen zu kämpfen.

Ganz befreit von Hausarbeit waren die Frauen aber nicht, selbst wenn sie Führungspositionen erreicht haben. Viele von ihnen mussten beides miteinander vereinen.

Natürlich wurde das Patriarchat auch im Sozialismus nie komplett abgeschafft. Sexismus hat den Weg dafür geebnet, dass auch Frauen durch ihre Erwerbstätigkeit und die Hausarbeit doppelt belastet waren: Viele Männer haben sich geweigert, zu Hause zu helfen. Aber es gibt auch Beweise, dass Männer, die nach 1960 geboren wurden, bereits mit progressiveren Ideen von Sex und Gender aufgewachsen sind. Man muss auch im Hinterkopf behalten, dass die meisten osteuropäischen Staaten relativ arm waren. Sie konnten sich es teilweise schlichtweg nicht leisten, Hausarbeit zu verstaatlichen. Deswegen war es für männliche Führungskräfte hilfreich, sich auf die Unterstützung der unbezahlten Hausarbeit ihrer Frauen zu verlassen.

Besonders viele Frauen in Führungspositionen sind aber nicht übrig geblieben.

In der Veränderung vom sozialistischen zum kapitalistischen System gab es viele Entlassungen. Dadurch wurden vor allem Frauen wieder zu Hausfrauen gemacht. Auch wenn man sagen muss, dass es in sozialistischen Systemen keine perfekte Geschlechtergerechtigkeit gegeben hat, war das Emanzipationslevel vor 1989 höher. Das lässt sich auch empirisch belegen.

Was hat das alles mit Sex zu tun, wie Ihr Buchtitel vermuten lässt?

Wer frei über eigene finanzielle Mittel bestimmen kann, ist ökonomisch unabhängig. Das heißt auch, dass sich die Menschen ihre Part­ne­r*innen frei aussuchen können – je nachdem, wen sie attraktiv finden oder lieben. Weniger aufgezwungenes Kalkül bei der Partner*innenwahl kann also zu besserem Sex führen. Eine bekannte Studie aus dem Jahr 2010 hat herausgestellt, dass 80 Prozent der befragten heterosexuellen Frauen in der Hälfte der Zeit ihre Orgasmen vorgetäuscht haben. Unser Sexleben wird besser, wenn wir auch im Bett ehrlicher und authentischer sind.

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