Kriminologe über schießende Polizisten: „Es wird nicht gelehrt wegzugehen“

In Niedersachsen hat die Polizei einen Geflüchteten erschossen. Der Polizeiforscher Rafael Behr spricht über Defizite in der Ausbildung.

Polizist auf einem Schießstand

Ein Polizist übt das Schießen Foto: Christoph Gateau/dpa

taz: Herr Behr, mehrere Schüsse klingt nicht nach Notwehr.

Rafael Behr: In der Ausbildung lernen Po­li­zis­t*in­nen zumindest zwei Schüsse abzugeben, sogenannte Dubletten. Zwei oder drei Schüsse sind durchaus noch nachvollziehbar, wenn es mehr sind, muss man sich fragen, ob derjenige die Kontrolle über die Situation hatte.

Warum wird auf den Körper des Angreifers gezielt?

Man unterscheidet Schüsse nach dem Polizeirecht, auf die Extremitäten, die nicht tödlich sein dürfen, und Schüsse in Notwehr, die auf den Körper abgegeben werden dürfen und den Gegenüber im schlimmsten Fall töten.

Wie definiert man Notwehr für die Polizei?

Notwehr ist juristisch dann gegeben, wenn ein unmittelbar bevorstehender Angriff auf das Leben oder die Gesundheit abzuwehren ist. Und Polizisten, die dazu da sind, Gefahren abzuwehren, gibt es nicht die Möglichkeit zu flüchten oder sich defensiv zu verhalten. Das heißt, Po­li­zei­be­am­t*in­nen begeben sich berufsbedingt öfter in Gefahrensituationen, wo sie eventuell von ihrem Notwehrrecht Gebrauch machen müssen. Und etwas kommt noch hinzu: Viele Polizisten, in der Regel männliche, arbeiten in einem sogenannten Überwältigungsdispositiv, sie bringen sich häufiger in Notwehrsituationen. Sie sind gewohnt anzugreifen und nicht abzuwarten. Die Kultur der Überwältigung ist tief in die Polizistenkultur eingeflochten. Es wird nicht gelehrt wegzugehen, sondern zuzupacken. Das wird dann zum Problem, wenn dieses Verhalten zur Routine wird und den Raum der Verhältnismäßigkeit verlässt.

63, ist seit 2008 Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie an der Polizeikademie Hamburg. Er ist vorgeschlagen für den Posten als Bürger- und Polizeibeauftragter in Hessen.

Lernt man Verhältnismäßigkeit in der Ausbildung?

In der Ausbildung lernen die Po­li­zis­t*in­nen Entscheidungen zu treffen. Schießen, nicht Schießen. Es werden Fallkonstellationen unter Laborbedingungen trainiert. Es gibt Schießkinos, wo die Po­li­zis­t*in­nen in filmischen Situationen lernen sollen, schnelle Entscheidungen zu treffen. Dafür werden Bilder gewählt, die eindeutig sind. Zum Beispiel, großer Mann mit einer Axt oder Frau mit Kinderwagen. Die Wirklichkeit ist selten so eindeutig. Ich will die Polizisten nicht in Schutz nehmen, aber manchmal ist es schwierig, Situationen eindeutig zu bewerten.

Was lernen Po­li­zis­t*in­nen in der Ausbildung über den Umgang mit psychisch erkrankten Personen?

Psychische Erkrankungen sind in der Theorie ein Thema, geübt wird der Umgang mit solchen Personen nicht. Im Einsatz steht meist der gefährliche Mensch im Mittelpunkt, der Angreifer, und nicht der kranke Mensch. Hier besteht ein Defizit.

Wo sehen Sie in der Ausbildung Handlungsbedarf?

Die Ausbildung läuft immer darauf hinaus, dass die Polizei als Sieger vom Platz geht. Die Simulationen zielen auf ein erfolgreiches Ende. Und wenn es nicht erfolgreich ist, unterbricht der Ausbilder die Übung und sagt: Versuch es nochmal. Das Bewusstsein, dass man auch mal scheitern muss, ist ganz gering ausgeprägt. Eine Fehlerkultur gibt es so gut wie nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.