Kriegsende vor 75 Jahren: Kaum noch Naziwitze
Einst Gegner, heute Partner. Wie an den 8. Mai 1945 in den Niederlanden, Frankreich, den USA und Großbritannien erinnert wird.
Beim Gedenken in den Niederlanden sind Deutsche unerwünscht
75 Jahre nach der Befreiung hätte Angela Merkel im renommierten Kunstmuseum in Den Haag die diesjährige 5.-Mai-Lesung halten sollen – auf Einladung von Premier Mark Rutte und des Nationaal Comité 4 en 5 mei, das in den Niederlanden sowohl Befreiungsfeiern als auch das Totengedenken am Vorabend organisiert. Merkel, so die Begründung, setze sich im Bewusstsein der historischen Verantwortung seit Jahren für „Frieden, Freiheit und Stabilität in Europa“ ein.
Dass die Lesung wegen des Corona-Ausbruchs abgesagt wurde, ändert nichts daran, dass die Versöhnung der Nachbarländer inzwischen einen weiten Weg zurückgelegt hat. Die Rolle Deutschlands und seiner Vertreter bei niederländischen Gedenkveranstaltungen ist ein Gradmesser dieser Entwicklung. Als 2012 Bundespräsident Gauck die Lesung zur Befreiung hielt, sprachen die Organisatoren von „historischer Bedeutung“. Im selben Jahr gab es eine heftige Diskussion über das Gedicht „Falsche Entscheidung“, mit dem ein 15-jähriger Schüler an seinen Großonkel, einen niederländischen SS-Angehörigen, erinnern wollte. Nach Protesten wurde der Beitrag zur nationalen Totengedenkfeier in Amsterdam gestrichen.
Im östlich von Arnheim gelegenen Dorf Vorden hat die Frage, ob die Prozession am 4. Mai auch die Gräber von zehn deutschen Soldaten passieren darf, Gerichte jahrelang beschäftigt. Die Gemeinde Wehl ganz in der Nähe dagegen empfängt zum Totengedenken jeweils eine Delegation aus der deutschen Partnerstadt Raesfeld – in der Grenzregion ist das keine Ausnahme.
Keine deutsche Anwesenheit ist dagegen bei der zentralen Feier auf dem Damplatz in Amsterdam erwünscht. Als der damalige Botschafter Thomas Läufer ob der stark verbesserten Beziehung darüber sinnierte, löste das einige Diskussionen und eine klare Antwort aus.
Dessen ungeachtet ist die Annäherung eine Tatsache. So sind die oosterburen, die östlichen Nachbarn, inzwischen eines der beliebtesten Urlaubsziele der Niederländer. Innerhalb der latent kriselnden EU sind sich Berlin und Den Haag in strikter Austerität treu verbunden. Es ist noch nicht lange her, dass man hierzulande Deutschland sogar als Garanten gegen den überall grassierenden Rechtspopulismus lobte.
Obwohl diese Einschätzung inzwischen revidiert ist, hört man Witze wie den oben nur noch selten. Das Schimpfwort moffen, mit dem Deutsche noch vor gar nicht allzu langer Zeit bedacht wurden, ist selbst beim Fußball selten geworden. Mit ihm verschwindet auch das Stereotyp des Befehle bellenden Teutonen im Rückspiegel. Krieg? Ist vorbei.
In den US-Medien ist der Jaherstag kaum ein Thema
Für die USA hat der Zweite Weltkrieg im Pazifik begonnen. Bis zum 7. Dezember 1941, als die USA durch einen japanischen Angriff einen Großteil ihrer Kriegsflotte in Pearl Harbor verloren, hatte das Land zwar Großbritannien und die Sowjetunion unterstützt, sich aber herausgehalten. Am 8. Dezember erklärte Präsident Roosevelt Japan den Krieg, drei Tage später traten Deutschland und Italien an Japans Seite in den Krieg ein. Die Kämpfe fanden in Europa, Asien und vor den Küsten statt, die Zivilbevölkerung blieb aber weitgehend verschont. Im Krieg starben 405.000 US-Soldaten. Im Verhältnis zu den 26 Millionen sowjetischen Toten nimmt sich diese Zahl gering aus, doch viele Amerikaner glauben, dass die USA weitgehend allein für die Wende im Zweiten Weltkrieg gesorgt hätten.
In den Medien ist der Jahrestag kaum Thema. Als einer der wenigen Autoren schreibt Rick Atkinson im Wall Street Journal bedauernd, dass die Weltordnung, die vor 75 Jahren begann, zu Ende gehe: „Die außerordentlichen Institutionen für die globale Stabilität werden immer brüchiger – zum Teil wegen des Niedergangs der amerikanischen Bereitschaft mit ehrgeiziger, wenn auch unvollkommener moralischer Autorität zu führen.“
In Paris brennt die Ewige Flamme
Ändert das etwas für die Menschen? Arbeiten können die allermeisten wegen des Zwangsurlaubs ohnehin nicht. Wenn sie ehrlich wären, würden die meisten Franzosen und Französinnen gestehen, dass für sie der 8. Mai in anderen Jahren einfach ein arbeitsfreier Urlaubstag war, und sich mit dem Tag der Arbeit eine Woche zuvor je nach Kalender oft zwei lange Wochenende ergaben.
Der Sinn und die Herkunft des 1953 offiziell geschaffenen Feiertags ist dabei längst sekundär geworden. 75 Jahre nach dem Kriegsende wäre es ja auch etwas überholt, vor dem Triumphbogen eine „Siegesfeier“ zu organisieren. Bereits 1975 wollte Präsident Valéry Giscard d’Estaing den 8. Mai aus versöhnlicher Absicht in einen „Europatag“ umfunktionieren, doch angesichts der Proteste der Veteranenverbände kehrte man rasch zur Feier des Sieges zurück.
Wie der 6. Juni, der Tag der alliierten Landung in der Normandie, diente der 8. Mai auch oft der Außenpolitik, prioritär zur deutsch-französischen Versöhnung. Aber auch zur Besiegelung von Freundschaften oder der diplomatischen Annäherung nach einer Verstimmung. In diesem Jahr fällt das aus. Gelegenheit also, sich in der Stille des Lockdowns auf die Bedeutung dieses Feiertags zu besinnen?
Fest steht vorerst nur, dass Präsident Macron wie üblich am Grab des unbekannten Soldaten im Beisein von ganz wenigen die Ewige Flamme als Symbol der nie erloschenen Erinnerung an die Kriegsgräuel entzünden soll.
In London bleiben die Glocken still
Es werden weder Glocken läuten, noch gibt es offizielle Auftritte. Statt wie geplant von Bergen und Anhöhen soll die „Last Post“, der traditionelle Bläsertribut der Militärkapellen an die Gefallenen, um 14.55 Uhr aus dem eigenen Haus oder Garten ertönen. Später wird im Vereinigten Königreich und in 27 anderen Ländern zum gemeinsamen Prosit aufgerufen: „To those who gave so much, we thank you“ – Dank denen, die so viel gaben.
Der Zweite Weltkrieg steht ohnehin immer hinter dem Ersten zurück, in dem Großbritannien viel mehr Tote zu beklagen hatte. Die Erinnerung an den 8. Mai 1945 ist nicht der Rückblick auf einen Sieg, sondern an ein kollektives Aufatmen: Gegen einen zunächst viel stärker erscheinenden Feind hat die Insel bestanden, erst allein, dann mit den Alliierten – dank Hartnäckigkeit und Mut, Zusammenhalt und Gemeinsinn. Der „Blitz Spirit“ im deutschen Bombenkrieg 1940/41, oder der „Dunkirk Spirit“ bei der Evakuierung der eingekesselten britischen Soldaten aus Frankreich 1940 waren zwei Momente, wo der Krieg leicht hätte verloren gehen können, der „Spirit“ aber half.
Im Jahr des Corona-Massensterbens, in dem sogar die Queen öffentlich an das Jahr 1940 erinnert, ist das besonders aktuell. Wie ein 99-jähriger Veteran dem Daily Telegraph erzählte: „Jeden Donnerstag um 20 Uhr applaudiere ich, um dem Gesundheitspersonal zu danken. Am 8. Mai werde ich applaudieren und an all die Kameraden denken, die nicht mit mir zurückkamen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau