Krieg um Bergkarabach ausgebrochen: Aserbaidschan startet Großangriff
Die Boden- und Luftoffensive richtet sich gegen die armenisch besiedelte Enklave Bergkarabach. In Armenien brechen Proteste gegen die untätige Regierung aus.
Seit Dienstagmittag steht das Gebiet unter breit angelegtem aserbaidschanischem Beschuss. Sowohl die Hauptstadt Stepanakert als auch ländlichere Gebiete sind betroffen. Videos in den sozialen Medien zeigen dunklen Rauch über Stepanakert, es sind Explosionen zu hören, die Luftalarmsirenen heulen auf. Armeniens Premierminister Nikol Paschinyan gab am Nachmittag an, Aserbaidschan habe außerdem den Einsatz am Boden begonnen.
Dass Armenien gegen den nach dem Krieg 2020 ausgehandelten Waffenstillstand verstoßen habe, sei der Auslöser des Einsatzes, so Baku. Für die Evakuierung von Zivilisten habe man Korridore aus dem umkämpften Gebiet geöffnet – eine Vorbereitung, das Gebiet von Armeniern zu entsiedeln, befürchten die.
Das Verteidigungsministerium in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku erklärte, es würde Präzisionswaffen nutzen, um auf armenische Militärpositionen und von „Separatisten“ – wie die Einwohner Bergkarabachs in Aserbaidschan genannt werden – genutzte Einrichtungen abzuzielen.
Geschosse schlagen in Wohngebäude ein
Ein auf X (ehemals Twitter) geteiltes Video zeigt ein Wohngebäude, in das ein aserbaidschanisches Geschoss eingeschlagen ist. Ein Teil der Mauer ist weggesprengt, Trümmer verteilen sich auf parkenden Autos und einem Kinderspielplatz. Es wurden weitere Wohngebäude sowie zivile Infrastruktur angegriffen, mindestens zwei Zivilisten bisher getötet und 23 weitere verletzt.
Menschen, die definitiv als Zivilisten erkennbar sind, sind betroffen: Unter anderem wurden 7 Kinder aus der Region Askeran in das Kinderkrankenhaus in Stepanakert eingeliefert, nachdem sie unter aserbaidschanischen Beschuss geraten waren. „Viele Eltern können ihre Kinder nicht finden, weil die Bombardierungen auf Stepanakert begann, als sie auf dem Heimweg waren. Sie können ihre Kinder auch nicht kontaktieren, weil die mobile Netzverbindung unterbrochen ist“, erklärt die Menschenrechtlerin Zaruhi Hovhannisyan.
Dass ein Angriff bevorstehen könnte, zeigte sich bereits am Morgen: Baku gab an, Armenier aus Bergkarabach hätten einen Anschlag mit Minen nördlich der Enklave ausgeführt, mehrere Polizisten seien getötet worden. Danach begannen erste Gefechte.
Letzte Woche schon gab es einen massiven aserbaidschanischen Truppenaufmarsch an der Enklave und der armenischen Grenze. Das Militär probte den Kampf aus der Luft, unter anderem mit einem israelischen Raketensystem. Und zwischen Aserbaidschan und dem mit ihm verbündeten Israel nahm die Anzahl der Transportflüge des Militärs deutlich zu.
Armenien und Aserbaidschan sind schon lange verfeindet
Paschinyan erklärte am Nachmittag, die Situation in Bergkarabach sei nicht unvorhersehbar gewesen. Man habe eine Sitzung des Sicherheitsrats einberufen. „Wir glauben, dass erstens die russischen Friedenstruppen Maßnahmen ergreifen sollten. Und zweitens erwarten wir, dass der UN-Sicherheitsrat Maßnahmen ergreift“, so Paschinyan. Armenien selbst hat keine Truppen in der Enklave.
Bergkarabach ist seit Jahrzehnten zwischen den beiden Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Aserbaidschan umkämpft. Nach dem Ende der Sowjetunion ging das Gebiet zunächst an Aserbaidschan. In den 1990er Jahren hatte sich die mehrheitlich armenische Bevölkerung des Gebietes mit Unterstützung Armeniens von Baku losgekämpft. Armenien war damals besser ausgerüstet und gewann den Krieg um Bergkarabach.
Bis 2020 hatte sich Aserbaidschan durch seine Öl- und Gasverkäufe eine bessere Ausrüstung erkauft und eroberte große Teile des Gebietes, 6.500 Menschen starben. Der anschließende Waffenstillstand sollte von russischen Friedenstruppen gesichert werden, die an der Grenze postiert sind. Er wurde aber bereits mehrfach gebrochen. Aserbaidschan blockierte außerdem den Latschin-Korridor, die einzige offene Verbindungsstraße nach Armenien. In der Enklave wurden Nahrungsmittel und Benzin knapp, die humanitäre Lage ist prekär.
Laut der Sprecherin des russischen Außenministeriums erfuhren die russischen Friedenstruppen erst wenige Minuten vor Beginn von der Operation. Baku gab bekannt, dass es außerdem das russisch-türkische Überwachungszentrum, das die Aufrechterhaltung des Waffenstillstands beobachtet, über die „Antiterroroperationen“ informiert habe.
Die Türkei – enge Verbündete Aserbaidschans – hat derweil Baku ihre volle Solidarität zugesichert. Ob türkische Soldaten oder Techniker an dem neuerlichen Angriff beteiligt sind, ist bisher nicht bekannt.
Die Europäische Union verurteilte den aserbaidschanischen Militäreinsatz. Frankreich hat eine Dringlichkeitssitzung des UN-Sicherheitsrats angeregt. Die Linke fordert die Aussetzung aller Abkommen mit Baku. Deutschland erhält seit dem Überfall Russlands gegen die Ukraine vermehrt Gas aus dem Kaukasusland.
Proteste in Armenien gegen Regierung
Als Reaktion auf den aserbaidschanischen Beschuss der Konfliktregion Bergkarabach haben in Armeniens Hauptstadt Eriwan Proteste begonnen. Die Demonstranten forderten am Dienstag von ihrem Regierungschef Nikol Paschinjan ein entschiedeneres Vorgehen sowie Unterstützung der armenischen Bewohner Bergkarabachs.
Auf Videos in sozialen Netzwerken ist eine aufgebrachte Menschenmenge zu sehen. Berichten örtlicher Medien zufolge versuchten Demonstranten, in das von Polizisten umstellte Parlamentsgebäude einzudringen. Es wurden demnach auch Steine und Flaschen auf Polizisten geworfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
CDU-Politiker Marco Wanderwitz
Schmerzhafter Abgang eines Standhaften