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Krieg in der Ukraine„Das ist nichts anderes als Völkermord“

Zeitgleich zum G7-Treffen feuert Putin hunderte Drohnen ab. Es ist der schwerste Angriff seit Kriegsbeginn – und der Zeitpunkt wohl kein Zufall.

Trümmer in der Ukraine: Russische Drohnen sorgen für Leid und Zerstörung in Kyjiw und weiteren ukrainischen Städten Foto: Thomas Peter/rtr

Ein Mann und eine Frau knien mit schmerzverzerrten Gesichtern vor den Trümmern, die vor wenigen Stunden noch ein Zuhause waren. In einer der Wohnungen des neunstöckigen Hauses, das durch den direkten Einschlag einer russischen Marschflugrakete des Typs X-101 zerstört wurde, lebte ihr Sohn.

Der gesamte Aufgang vom neunten Stockwerk bis zum Keller wurde getroffen– dort befanden sich mehr als 30 Wohnungen. Wie viele Menschen sich zum Zeitpunkt des nächtlichen Angriffs in ihren Wohnungen aufhielten, ist bislang nicht genau bekannt – auch nicht, wie viele unter den Trümmern begraben wurden. Bislang haben Rettungskräfte fünf Leichen sowie Überreste von einer oder mehreren Personen geborgen.

Dieses Wohnhaus im Solomjanskyj-Bezirk Kyjiws, einem dicht besiedelten Gebiet, war eines von Dutzenden, die in der Nacht zum Dienstag, dem 17. Juni, durch russische Angriffe beschädigt wurden. Insgesamt setzten die russischen Streitkräfte fast 500 Mittel des Luftangriffs gegen die Ukraine ein – Kamikaze-Drohnen, Marschflugkörper und ballistische Raketen.

Hauptziel dieses Angriffs war Kyjiw, wo bis Dienstagmittag 15 Tote und über 139 verletzte Zivilisten gemeldet wurden. Die Sucharbeiten dauern an, Rettungskräfte suchen mithilfe von Spürhunden nach Überlebenden unter den Trümmern. Der 18. Juni wurde in Kyjiw zum Trauertag erklärt.

Neue Drohnen-Taktik

Der Angriff gilt, gemessen an der Zahl eingesetzter Drohnen und Raketen sowie an Opfern und Zerstörungen, als einer der massivsten auf Kyjiw seit Beginn der Großinvasion Russlands in die Ukraine. Brände und Zerstörungen wurden an 27 Orten auf beiden Ufer­seiten der ukrainischen Hauptstadt festgestellt.

Die russische Strategie bleibt dabei unverändert: Zuerst erfolgt der Angriff mit Kamikaze-Drohnen und deren Täuschkörper, um das ukrainische Luftabwehrsystem zu überlasten. Zu diesem Zeitpunkt erreichen bereits von strategischer Luftwaffe abgefeuerte russische Marschflugkörper den ukrainischen Luftraum. Gleichzeitig werden ballistische Raketen abgefeuert, deren Flugzeit weniger als fünf Minuten beträgt.

Um es den Ukrainern erheblich schwerer zu machen, die Angriffe abzuwehren, hat sich allerdings eine Taktik verändert. Drohnen des Typs Shahed werden nun in schwarzer Farbe produziert, um sie nachts schwerer erkennbar zu machen. Zudem wurde der Sprengkopf erheblich vergrößert – auf bis zu 90 Kilogramm, was zu deutlich größeren Zerstörungen führt. Außerdem können diese Drohnen jetzt in Höhen über 3 Kilometern fliegen, was sie für die mit Maschinengewehren ausgestatteten mobilen ukrainischen Luftabwehrgruppen praktisch unerreichbar macht.

Die größte Veränderung besteht jedoch in der Anzahl der eingesetzten Mittel: Früher wurden Angriffe mit etwa 100 Drohnen gegen das gesamte Land geführt, heute ist Russland in der Lage, gleichzeitig 400 bis 500 Drohnen einzusetzen, da es ihm gelungen ist, deren Massenproduktion aufzubauen.

Putins Kalkül

Nach dem jüngsten Angriff auf Kyjiw fanden Einwohner laut dem Bürgermeister der Hauptstadt, Vitali Klitschko, in verschiedenen Stadtteilen Metallkügelchen – Splittereinsätze russischer Raketen. „Das ist die Streubombenladung einer Rakete. Solche Kugeln befinden sich im Inneren der Raketen, um möglichst viele Menschen zu verletzen. Das ist nichts anderes als Völkermord“, sagte Klitschko.

Nur der Gesang der Vögel erinnerte daran, dass wir noch am Leben sind

Tetjana überlebte den Angriff in ihrer Wohnung in Kyjiw

„Ich dachte, der vorherige, massivste Angriff auf Kyjiw sei der schlimmste meines Lebens gewesen, aber ich habe mich geirrt“, berichtet die Kyjiwerin Tetjana. „Diese Nacht war die schrecklichste. Ich habe alles gesehen – Drohnen, Raketen, Rauch von den Bränden, der die Sonne beim Morgengrauen verdunkelte. Nur der Gesang der Vögel erinnerte daran, dass wir noch am Leben sind.“ Tetjana hatte es nicht mehr rechtzeitig in den Schutzraum geschafft und blieb während der Attacke in ihrer Wohnung im 5. Stock.

Doch nicht nur die Hauptstadt war in der Morgendämmerung in Rauch gehüllt, begleitet vom Heulen der Sirenen und Rettungsfahrzeuge. Auch andere Regionen wurden angegriffen – Saporischschja, Odessa, die Gebiete Tschernihiw, Kyrowohrad und Schytomyr – mit Toten, Verletzten und erheblichen Zerstörungen ziviler Infrastruktur.

„Putin macht das absichtlich – genau während des G7-Gipfels“, erklärte der ukrainische Außenminister Andrij Sybiha. „Sein Ziel ist einfach: die G7-Staats- und Regierungschefs als schwach erscheinen zu lassen“, so Sybiha. Präsident Wolodymyr Selenskyj, der sich derzeit in Kanada aufhält, rief die USA und Europa zu einer entschlossenen Reaktion auf den neuerlichen russischen Angriff auf. Er hatte sich im Rahmen des G7-Treffens in Kanada mit Präsident Donald Trump treffen wollen. Doch der reiste vorzeitig ab.

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19 Kommentare

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  • Was hat der Westen denn nun wieder angestellt, um Russland zu so etwas zu treiben?

    Hat er sich nicht genügend kritisch selbst reflektiert? Wurden denn nicht "erste technische Kooperationen etwa im Katastrophenschutz oder der Cybersicherheit" gewagt "sowie die behutsame Wiederaufnahme diplomatischer Kontakte", wie im wichtigen "Manifest" gefordert?

    Vielleicht können Stegner, Mützenich und Wagenknecht uns das beantworten?

    Aber in keinem Fall ist es möglich, dass das faschistische Russland absichtlich und bewusst das Böse* tut.

    * Ich weiß, es ist natürlich "nicht hilfreich" und zeugt von "Schwarz-Weiß-Denken", böses auch als böse zu bezeichnen.

  • Sollte man mit dem Wort Völkermord nicht etwas weniger inflationär umgehen vor allem in Anbetracht der Verhältnismäßigkeiten?



    Also, ich habe von den Deutschen jedenfalls gelernt, dass der Maßstab für Völkermord in Gaza festgelegt wird. Und da das ja in Deutschland sicherlich auch die nächsten 100 Jahre kein anerkannter Völkermord nach den dafür geltenden Kriterien sein wird (türkische Erinnerungskultur an die Armenier lässt grüßen), drängt sich schon etwas Lächerlichkeit auf, wenn jeder kriegerische Angriff auf die Ukraine und sei es sogar mit verbotenen oder geächteten Waffen, direkt als Völkermord oder Kriegsverbrechen betitelt wird.



    In Gaza konnte man sich noch nicht mal dazu durchringen, als auf diesem kleinsten Gebiet mit derartigen Dichte an Bevölkerung, Phosphorbomben und mit Uran Abgereichertes verschossen wurde und zwar weit vor dem 7. Oktober!

    • @Edda:

      Und jetzt mal zur Abwechslung ein paar Fakten:



      Angriffe auf die Zivilbevölkerung sind gemäß des römischen Statuts des ICJ der UN selbstverständlich Kriegsverbrechen.

      Und die Definition der UN von Völkermord ist folgende:

      "Völkermord, auch bekannt als Genozid, ist die vorsätzliche und systematische Vernichtung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe als solche, ganz oder teilweise"

      Entsprechend handelt es sich IMO sowohl bei Putins Vorgehen in der Ukraine als auch beim Vorgehen Israels in Gaza um Völkermord.

  • Das ist auch ein Angriff auf uns weil alle Welt sieht, dass wir noch immer nicht in der Lage zu einer undurchdringlichen Luftabwehr sind. Auf den Charakter des Befehlsgebers hätte man schon in der Episode "schwarzer Labrador in Sotschi" reagieren können. So etwas war/ist unübersehbar signfikant und wir leben alle mit den Folgen dieses eklatanten politischen Fehlers. - Man sollte die Persönlichkeitsrechte der Abgebildeten nicht auch noch gering schätzen. Das ist vielleicht eine gute Absicht, aber kein guter Zweck. Das macht man nicht und nützt auch nichts.

  • Überall hört man von den Vampire Raketen, nur in den deutschen Medien nicht.



    itc.ua/en/articles...o-the-middle-east/



    Es heißt, Trump hätte eine fest zugesagte Lieferung in den Mittleren Osten umdirigiert. Der Iran legt natürlich nahe, sie könnten dort tatsächlich gebraucht werden. Doch angesichts verstärkter Drohnenangriffe ist das natürlich bitter für die Ukraine. Immerhin ist Trump rechtzeitig abgereist.

  • Angesichts der hohen Zahl ziviler Opfer in Gaza oder auch der aus dem Iran gemeldeten Opfer in nur sechs Tage Krieg sollte man vorsichtiger sein, wenn man den Begriff "Völkermord" für die russische Invasion in der Ukraine verwendet.

    Vergleichen wir sowohl die Gesamtzahlen als auch die Zahlen im Verhältnis zur Dauer der Konflikte.

    Solche Übertreibungen entleeren von Bedeutung die Konzepten und machen sie zu bloßem Wurwaffen in Schlammkriegen.

    Aber es muss immer wieder wiederholt werden: Jeder Tod, jede Verwundung – ob zivil oder militärisch – in einem Krieg ist ein Opfer zu viel.

    • @Bescheidener Kunsthandwerker:

      Die tausendfache Entführung und Russifizierung ukrainischer Kinder kann juristisch tatsächlich als Tatbestandsmerkmal eines Völkermordes gewertet werden. Deswegen ja auch der Haftbefehl gegen Putin.

  • Ich muss die ganze Berichterstattung nicht mehr lesen, es ist und bleibt Terror seit Beginn des Überfalls durch Putin.

    Und immer noch frage ich mich: Wann steht die Staatengemeinschaft endlich auf und zeigt Putin mal die Zähne? wann wird endlich mal eine rote Linie gesetzt, sowohl diplomatisch, aber auch militärisch?

    Putin ist der "Schulhofschläger", der dir ständig gegen das Schienbein tritt und die regelmäßig dein Pausenbrot klaut. Alle findens schlimm, aber keiner geht dazwischen.

    Armseliges Europa!!!

    • @Juhmandra:

      "wann wird endlich mal eine rote Linie gesetzt, sowohl diplomatisch, aber auch militärisch?"

      Sie wünschen sich einen Atomkrieg? Wie kommt man auf sowas?

    • @Juhmandra:

      Ja, das ist für sich genommen richtig.

      Andererseits haben sich die führenden Staaten die Putins, Netanjahus und selbst Mullahs selber gezüchtet.

      Und jetzt habt das große Wehklagen über das Böse in der Welt an.

      Wenn man Frieden über alle Grenzen dieser Welt hinweg will, dann soll man auch friedlich mit allen Ländern kooperieren, friedlich mit ihnen handeln und so Misstrauen und Feindschaft beenden.

      Man kann doch aber nicht Feindschaft und Misstrauen sähen und Friede, Freude, Eierkuchen ernten. Das geht nun mal nicht.

    • @Juhmandra:

      Sie kriegen schon mit, was gerade im Nahen Osten passiert?



      Niemand zeigt irgendwem die Zähne, egal wie schlimm die Verbrechen sind.



      Das ist geopolitische Realität. Und Europa braucht sich gar nicht mehr moralisch irgendwie aufzuspielen, egal ob bzgl. der Ukraine oder sonstwo. Indem man die Israelischen Kriegsverbrechen und Angriffskriege dauerhaft unterstützt, hat man hier eh jeden Kredit verspielt.

    • @Juhmandra:

      Haben Sie vielleicht Putin mit Netanjahu verwechselt? Ansonsten können Sie nicht ernst, dass die westliche Staatengemeinschaft nicht hinter der Ukraine steht und Putin die Zähne zeigt!

      Noch mal zur Erinnerung warum sind seit dem Ausbruch des Ukraine Krieges bei uns die Energiekosten so krass gestiege? Genau, weil wir aus Solidarität trotz unseres eigenen tiefer in die Tasche greifen müssens, keine Energie mehr aus Russland bezogen. Ohne Ende und Evaluation Sanktionen gegen Russland, der Ausschluss jeglicher russischer Kultur und russischen Sports aus allen gesellschaftlichen Rahmen des Westens, internationale Isolation, Haftbefehl, Einreiseverbote, Beschlagnahmung von Vermögen und Vermögenswerten von Russen und so weiter, von der milliardenschweren militärischen Unterstützung unter Annahme eigener Risiken und Unmut der eigenen Bevölkerungen, davon rede ich nicht mal.



      Es ist schon ganz schön viel, was Europa für die Ukraine und zum eigenen Nachteil geschultert hat, um ihr beizustehen..



      Daher finde ich Ihren Vergleich befremdlich und unwahr. Außer sie verwechseln Putin wirklich mit Bibi, denn die Einzigen die rundherum ohne Konsequenzen verprügeln dürfen, sind in Israel.

    • @Juhmandra:

      Richtig. Man würde auch den russischen Volk helfen wenn man Putin und sein Regime endlich zu Fall bringt. Deutschland's Kriegslust wurde auch nur mit großer Kraftanstrengung beendet, das wird man doch auch mit Russland schaffen?

    • @Juhmandra:

      Schulhofschläger trifft es genau. Er führt Krieg, weil er es kann. Er führt Krieg aus Langeweile.

      Und er freut sich über jeden fehlgeschlagenen Verhandlungsversuch. Er geniesst es, wenn ihm alle in den Allerwertesten kriechen, er geniesst die Bettelei um Frieden... und wie reagiert er darauf? Mit noch mehr Terror und Gewalt.

      Währenddessen sind seine Proxys und Trolle, auch in der Politik, von rechts bis links unterwegs, um das Land, um Europa zu spalten.

  • Irgendwie muss mir vor 2 Jahren entgangen sein, dass Klitschko die US-Lieferung von Streumunition auf Schaerfste kritisiert und es sich zur Lebenaufgabe gemacht hat, dass die Ukraine das Verbot dieser abscheulichen Waffen ratifiziert.

  • Wann reisen die ganzen Russlandversteher endlich mal nach Kiew um das von ihrem Freund Wladimir angerichtete Leid zu erleben? Ach nein, Sahra, Alice, Tino und Rolf reden ja lieber über die bösen Helfer aus dem Westen. Echt, aber erbärmlich.

  • Es ist wirklich komplett surreal, wie der Völkermordbegriff in deutschen Medien verwendet wird.

    In Gaza wird von der Israelischen Armee auf hungernde Zivilisten geschossen, die für etwas Essen anstehen...

    • @TeeTS:

      Und von der Hamas wird (und zwar gezielt) auf hungernde Zivilisten geschossen, die für etwas Essen bei den falschen Hilfskonvois, nämlich den von Israel organisierten, anstehen. Die verhindern sollen, dass sich die Hamas alles unter den Nagel reißt.

    • @TeeTS:

      Die Entführung und Zwangsrussifizierung ukrainischer Kinder kann juristisch als Tatbestandsmerkmal des Völkermordes gewertet werden. Ein Genozid muss nicht zwingend die Tötung von Menschen bedeuten. Denkbar ist z.B. neben der Umerziehung von Zivilisten, vor allem Kindern, auch die massenhafte Zwangssterilisierung von Angehörigen einer Volksgruppe. Auch die absichtliche Vernichtung von Kulturstätten kann dazu gehören.

      Beides wird übrigens von China gegen die Uighuren praktiziert. Interessiert keinen, erst recht nicht die angeblich so solidarische islamische Welt.