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Krieg in GazaHilfeschrei der Hilfsorganisationen

Israel blockiert seit einem Monat sämtliche humanitären Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Die Arbeit für die NGOs selbst wird immer gefährlicher.

Essensausgabe einer Hilfsorganisation im Chan Yunis im Gzastreifen Foto: Hatem Khaled/reuters

Kairo taz | Seit drei Wochen läuft die erneute Militäroffensive der israelischen Armee im Gazastreifen – in einer Intensität, die selbst die dort an viel Leid und Krieg gewöhnten Menschen noch nicht erlebt haben. Bereits seit dem 2. März blockiert Israel zudem sämtliche Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Medien­berichten zufolge kontrolliert Israel nun mehr als die Hälfte des Gebiets von Gaza. Dieses besteht aus einer immer größer werdenden militärischen Pufferzone an der Grenze zu Israel. Dort hat das Militär Häuser, Ackerland und Infrastruktur so weit zerstört, dass die Gebiete unbewohnbar sind. Außerdem besetzt das Militär das Gebiet um den Netzarim-Korridor, mit dem die israelische Armee den Gazastreifen in einen nördlichen und südlichen Teil trennt.

Anfang April erklärte Israels Premier Benjamin Netanjahu, seine Regierung beabsichtige, einen weiteren Korridor zu errichten, der den südlichen Gazastreifen durchschneidet und die Stadt Rafah vom Rest des Gebiets abtrennt. Verteidigungsminister Israel Katz drohte, Israel würde Teile des Gaza­streifens annektieren, sollte die radikalislamische Hamas nicht die noch im Gazastreifen verbliebenen Geiseln freilassen – doch dass dieses Vorgehen sie wirklich befreien wird, daran zweifeln ein Großteil der Israelis und der Angehörigen der Geiseln.

Was die erneute Offensive für die Palästinenser in Gaza bedeutet, haben kürzlich internationale Hilfsorganisationen wie Save the Children und Oxfam, die im Gazastreifen tätig sind, in einem Pressegespräch beschrieben. Sie zeichnen ein dramatisches Bild der Lage.

Der aus Indien stammende Arzt Feroze Sidhwa machte die Auswirkungen der neuen israelischen Offensive mit einem Vergleich deutlich. Normalerweise arbeitet Sidhwa als Trauma-Chirurg im US-amerikanischen Boston. Seit ein paar Wochen ist er als Freiwilliger im Nasser-Spital im zentralen Gazastreifen tätig. Er vergleicht den ersten Tag der Wiederaufnahme der israelischen Offensive in Gaza mit dem Tag des Attentats auf den Boston Marathon 2013.

Ein Krankenhaus, 280 Verletzte

„Am Morgen, als die israelischen Bombardierungen wieder begannen, hatten wir im Krankenhaus im Gaza­streifen einen Massenanfall von Verletzten. In Boston mussten damals 129 Verletzte in sechs Traumazentren versorgt werden“, erzählt der Arzt. Das sei der bis dahin größte Massenanfall von Verletzten gewesen, den er erlebt habe. „Allein in das Nasser Krankenhaus in Deir El-Balah wurden aber innerhalb von vier Stunden 280 Verletzte angeliefert. Ich habe sechs Operationen in fünf Stunden durchgeführt“, erzählt Sidhwa, der von der Organisation MedGlobal entsandt wurde.

An diesem Tag habe er kleine Kinder, die noch einen Puls und eine Schnapp­atmung hatten, in der Triage aussortieren und in die Ecke zum Sterben legen müssen. Andere hatten eine höhere Überlebenschance.

Sidhwa war zuvor dreimal in der Ukraine im Einsatz gewesen. Als 2024 das Kinderkrankenhaus in Kiew getroffen wurde, habe es berechtigterweise einen internationalen Aufschrei gegeben. „Was in Gaza geschieht, hat ungleich größere Ausmaße“, sagt der Arzt. Die Palästinenser fühlten sich vom Westen im Stich gelassen.

Von insgesamt 35 Krankenhäusern seien 13 vollkommen außer Betrieb, sagt Assil Beidoun von der Organisation Medical Aid for Palestinians. Die anderen 22 seien nur bedingt funktionstüchtig. Mehr als 1.000 Gesundheitsfachkräfte seien getötet worden. Hunderte sollen von der israelischen Armee gefangengenommen worden sein. Bei der Versorgung von medizinischen Gütern herrsche Mangelverwaltung.

Und nicht nur dort, so Clémence Lagouardat von der Hilfsorganisation Oxfam. „Nichts kommt in den Gaza­streifen hinein. Egal welches Gut, egal, welche Art von Hilfe. Nichts“, beschreibt sie die Lage seit dem 2. März, als die israelische Totalblockade von Hilfsgütern begann.

Nichts kommt in den Gazastreifen hinein. Nichts

Clémence Lagouardat, Oxfam

Alexandra Saieh von der Organisation Save the Children berichtet, dass während des Waffenstillstands 4.000 unterernährte Kinder in zwei Einrichtungen der Hilfsorganisation im Gazastreifen versorgt werden konnten. „Die meisten waren Neugeborene oder Babys, die in die Unterernährung hineingeboren wurden.“ 300 Kinder seien täglich in diesen Einrichtungen aufgepäppelt worden. Doch auch diese Zahl sei seit der erneuten militärischen Offensive Israels massiv nach unten gegangen. „Zu den speziellen Sprechstunden für Mütter und Töchter ist diese Woche niemand gekommen. Die Menschen haben zu viel Angst, sich zu bewegen“, erzählt sie.

In immer mehr Teilen des Gazastreifens werden die Menschen von der israelischen Armee wieder dazu aufgefordert, umzusiedeln, erzählt Gavin Kelleher vom Norwegian Refugee Council, einer Hilfsorganisation, die sich auf Behausungen für die Vertriebenen spezialisiert hat. Doch die meisten können sich nicht einmal leisten, einen Eselskarren zu mieten, der sie in den Süden des Gazastreifens bringt. Auch für die Mitarbeiter der Hilfsorganisationen ist die Arbeit gefährlicher geworden, erklärt Kelleher. In Gaza wurden mehr von ihnen getötet als in jedem anderen Konflikt. „Seit der Wiederaufnahme des Krieges verlangt das israelische Militär auch nicht mehr, wie sonst in Konflikten üblich, dass die Hilfsorganisationen ihre Bewegungen in den meisten Teilen des Gazastreifens im Voraus mit der Armee koordinieren.“ Damit gebe es auch keine Bestätigung, dass die Armee informiert ist.

Hilfsorganisationen sind frustriert

Am 23. März kam es dann auch zu einem Vorfall, der international für Aufruhr sorgte: Die israelische Armee tötete 15 Rettungskräfte, die in einem Konvoi aus Krankenwagen, einem UN-Fahrzeug und einem Feuerwehrauto im südlichen Gazastreifen unterwegs waren.

Die israelische Armee hatte daraufhin zunächst behauptet, dass sich einige Fahrzeuge verdächtig ohne Scheinwerfer oder Blinklicht auf die israelischen Truppen zubewegt hätten. Bei den Mitgliedern der Einsatzteams habe es sich um Militante gehandelt.

Doch ein Video, das einer der getöteten Sanitäter gefilmt hatte, widerlegt diese Darstellung: Die Ersthelfer scheinen demnach gezielt unter Feuer geraten zu sein.

Wir sind so aufgestellt, dass wir im Gazastreifen scheitern müssen

Gavin Kelleher, Norwegian Refugee Council

„Wir sind so aufgestellt, dass wir mit unserer humanitären Hilfe im Gazastreifen scheitern müssen“, fasst Kelleher den Frust der Hilfsorganisationen zusammen: „Wir schaffen es nicht, die Menschen mit dem Nötigsten zu versorgen“.

Was die Mitarbeiter mit nach Hause nehmen würden, sind die Erinnerungen aus Gaza, sagt Saieh von Save the Children. Sie erzählt die Geschichte einer palästinensischen Mutter: „Ihr zwölfjähriger Sohn musste die Überreste eines Babys von einem Baum klauben. Eine Explosion hatte es auf den Baum geschleudert“. Es sind Geschichten, die niemand vergisst.

Mitarbeit: Judith Poppe

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