Krieg im Nahen Osten: Menschlich werden
Hass und Rachelust lenken heute die Herzen im Nahen Osten. Dabei schien ein Frieden in der Vergangenheit wiederholt greifbar nah zu sein.
![Ein weinendes Kind hält sich die Hände vor das Gesicht Ein weinendes Kind hält sich die Hände vor das Gesicht](https://taz.de/picture/6637803/14/34013849-1.jpeg)
W as ist das nur für eine Blindheit? Viele Unterstützer*innen der Palästinenser haben die infamen Gräueltaten der Hamas am 7. Oktober einfach nicht gesehen. Sollten sie sie doch gesehen haben, haben sie sich oft gesagt, dass es die Besetzung und die sinnlose Blockade des Gazastreifens war, die die Angreifer zu wilden Tieren werden ließ.
Empfohlener externer Inhalt
Umgekehrt sehen viele Unterstützer*innen der israelischen Seite nicht die Bilder der Kinder, deren Körper aus den Trümmern des bombardierten Flüchtingslagers Dschabalia gezogen wurden. Der makabre Zähler tickt Stunde um Stunde und heizt eine unaufhaltsame tödliche Spirale an, die zu einem regionalen Krieg zu eskalieren droht.
Sinnlos und dumm wäre der Versuch, die Gräueltaten gegeneinander aufzurechnen. Vielmehr gilt es jetzt, den geistigen Eisernen Vorhang zu durchbrechen, der sich über die Köpfe gelegt hat, einen Vorhang, der verhindert zu sehen, zu verstehen, mitzufühlen … Es gilt, wieder menschlich zu werden. Solange auf beiden Seiten Hass und Rache die Oberhand haben, erscheint das als aussichtsloses Unternehmen. Umso dringlicher braucht es ein Wort der Wahrheit, das beide Seiten gleichzeitig in den Blick nimmt.
Am Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte der linke österreichische Journalist Theodor Herzl, der als Korrespondent in Paris über die Dreyfus-Affäre berichtere, das Ausmaß des französischen Antisemitismus. Er kam zu dem Schluss, dass nur ein eigener Staat die Juden würde schützen können.
Während die israelische Armee all ihre Feuerkraft gegen die unglücklichen Bewohner*innen Gazas einsetzt, bestraft sie die Hamas nicht nur für ihre Verbrechen, sondern auch dafür, dass sie das wesentliche Credo Israels untergraben hat – eines Landes, das den dort lebenden Juden und Jüdinnen Sicherheit bieten soll.
Kampf ums Image der Supermacht
Die Soldaten kämpfen und die Luftwaffe bombardiert, weil die Hamas aller Welt vor Augen geführt hat, dass Israel verletzlich, unvorbereitet, von der Arroganz geblendet und unfähig ist, die eigenen Bürger*innen zu schützen. Die Armee kämpft und bombardiert mit dem Ziel, das Bild der Supermacht und die Abschreckung wiederherzustellen. Sie ist blind für das Leid, das sie anderen zufügt.
Rund 80 Prozent der Menschen im Gazastreifen sind Flüchtlinge. Als die Hamas die Grenzanlagen durchbrach, glaubten die Bewohner*innen Gazas einen Moment lang, sie seien in das Land ihrer Vorfahren zurückgekehrt, wenn auch nur für ein paar Stunden. Die gesamte seit 1948 entwickelte Mythologie, die palästinensische Flüchtlinge als Rückkehrer bezeichnet, fand hier einen Moment symbolischer Verwirklichung. Gleichzeitig sind Palästinenser*innen im Westjordanland der mörderischen Gewalt von Siedler*innen ausgeliefert – gerade jetzt auch aus Rache für den 7. Oktober.
So aussichtslos die Lage derzeit ist, so darf nicht vergessen werden, dass Frieden in der Vergangenheit wiederholt möglich erschien. Schon David Ben-Gurion, Israels erster Regierungschef, hatte sich 1967 nach dem Sechstagekrieg für die Rückgabe der besetzten Gebiete ausgesprochen als Gegenleistung für die Anerkennung Israels, die die arabischen Staaten damals jedoch ablehnten.
25 Jahre später, im Jahr 1993, unterzeichnete der damalige Premierminister Jitzhak Rabin mit dem früheren PLO-Chef Jassir Arafat die Osloer Prinzipienerklärung, die zu einem Ende der Besatzung und schließlich zu zwei Staaten führen sollte. Rabin wie Ben-Gurion sahen realistisch voraus, dass die fortgesetzte Kontrolle von Millionen Palästinenser*innen die jüdische Bevölkerung zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer früher oder später zur Minderheit werden lassen würde.
Die Kriegstreiber geben den Ton an
Rabins Kritiker*innen, allen voran Israels heutiger Regierungschef Benjamin Netanjahu, verfolgen das genaue Gegenteil, nämlich die Zweistaatenlösung unmöglich zu machen. Das heißt: den Frieden zu verhindern. Das ist ein Ziel, das die Hamas weitgehend teilt. Die Hamas kam 2006 in Gaza vor allem deshalb an die Macht, weil die Palästinenser*innen das Gefühl hatten, dass Arafat seinen Teil des Abkommens weitgehend erfüllt hatte, ohne dafür jedoch die entsprechende Gegenleistung zu erhalten.
Was die bis ins Mark korrupte Palästinensische Autonomiebehörde betrifft, so wurde sie immer eher als eine Art Hilfsorganisation der israelischen Unterdrückung im Westjordanland betrachtet. Die einzige Alternative zur Fatah, der Partei Arafats, deren Chef inzwischen der palästinensische Präsident Mahmud Abbas war, blieb bei den Wahlen im Jahr 2006 nur die Hamas. Und das vermutlich zur großen Zufriedenheit von Netanjahu.
Israel stellte drei Bedingungen, die erfüllt werden mussten, um eine Zusammenarbeit mit der demokratisch gewählten palästinensischen Führung herzustellen: Die Anerkennung Israels, die Anerkennung der mit der PLO unterzeichneten Friedensabkommen und die Abkehr von jeglicher Gewalt. Die Hamas ging darauf nicht ein. Beide Konfliktseiten boykottierten sich gegenseitig.
Bis zum 6. Oktober war sich Netanjahu mit Unterstützung der USA eines für Israel günstigen Weges sicher, zumal sogar Saudi-Arabien im Begriff war, einen Separatfrieden mit ihm zu unterzeichnen und die Palästinenser*innen zu ignorieren. Der brutale Angriff der islamistischen Hamas auf Hunderte israelische Zivilist*innen veränderte die nahöstliche Realität. Letztendlich entzweit der Krieg nicht wirklich die beiden Völker, sondern diejenigen, die Frieden suchen und diejenigen, die Krieg wollen.
Zum Unglück geben die Letzteren den Ton an. Sollte dieser Konflikt nicht den ganzen Nahen Osten in Brand setzen, wird vielleicht der Tag kommen, an dem sowohl die einen wie die anderen endlich diese einfache Wahrheit akzeptieren werden: In dieser unglücklichen Weltregion ist dieser Krieg keine Lösung – und wird es auch niemals sein.
Aus dem Französischen von Barbara Oertel
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Denkwürdige Sicherheitskonferenz
Europa braucht jetzt Alternativen zu den USA
„Edgy sein“ im Wahlkampf
Wenn eine Wahl als Tanz am Abgrund verkauft wird
Überraschung bei U18-Wahl
Die Linke ist stärkste Kraft
RTL Quadrell
Klimakrise? War da was?
Verlierer der Wahlrechtsreform
Siegerin muss draußen bleiben
Absturz der Kryptowährung $LIBRA
Argentiniens Präsident Milei lässt Kryptowährung crashen