Kreml-Expertin Belton über Russland: „Putin ist ein kleinkarierter Mann“
Der Anschlag in Moskau könnte Wladimir Putin nützen, sagt Kreml-Expertin Catherine Belton. Wenn der Westen die Kurve kriege, könnte sein Thron aber wackeln.
wochentaz: Frau Belton, der Terroranschlag von Moskau liegt wenige Tage zurück. Kann er Wladimir Putin schaden – oder wird er ihm sogar nützen?
Catherine Belton: Putin und seine Verbündeten aus den Sicherheitsdiensten zeigen mit dem Finger auf die Ukraine und auf den Westen – es hängt nun alles davon ab, ob sie dieses Narrativ aufrechterhalten können. In seinen ersten beiden Amtszeiten war es die Taktik Putins, den Westen für Terroranschläge verantwortlich zu machen. Insbesondere nach der Geiselnahme von Beslan 2004 beschuldigte er westliche Kräfte, die Teile Russlands abtrennen wollten, hinter dem Anschlag zu stecken. Diese Erzählungen haben ihm jedes Mal geholfen, die Macht seiner Sicherheitsdienste zu stärken und jegliche Opposition im politischen System auszuschalten. Die Chancen stehen gut, dass er diese Methoden erneut erfolgreich anwenden und den Anschlag nutzen kann, um das Land weiter gegen die Ukraine und den Westen aufzuwiegeln. Seine Kontrolle über die Medien ist unglaublich groß, und wir werden nun wahrscheinlich erleben, dass Putins Regime noch aggressiver gegen die Ukraine – und möglicherweise gegen den Westen – vorgeht.
Bei den Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Russland im Jahr 1999 gab es deutliche Hinweise darauf, dass der Geheimdienst FSB beteiligt war. Diesmal hätte der FSB zumindest gewarnt gewesen sein müssen. Wie beurteilen Sie die Versäumnisse der Sicherheitsbehörden?
Es gibt noch viele Fragen, wie es zu diesem Anschlag kommen konnte, warum die Sicherheitsbehörden nicht wachsam waren, obwohl sie so deutlich gewarnt worden waren. Es ist klar, dass der Islamische Staat keine neue Bedrohung für Russland darstellt. Wir wissen nicht, wie es den vier sogenannten unmittelbaren Tätern gelang, so viel Schaden anzurichten. Wo war die Polizei? Ist sie einfach weggelaufen? Und warum haben sich die vier mutmaßlichen Täter nicht getrennt, sondern sind gemeinsam in einem Auto zur Grenze gefahren? Das wäre ein sehr merkwürdiges Verhalten. Irgendetwas passt da nicht zusammen.
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Nach der Scheinwahl in Russland inszenierte sich Putin als großer Sieger, Störaktionen fielen kaum auf. Ging Putin auch aus der „Wahl“ gestärkt hervor?
Für Putin waren die sogenannten Wahlen wichtig als Stempel oder Zertifikat seiner Legitimität. Er denkt, dass das absurd hohe Ergebnis ihn stärker macht. Und ich glaube, er glaubt wirklich, dass diese Unterstützung echt ist. In den Augen des Westens unterstreicht diese enorme Zahl jedoch nur das Ausmaß der Fälschungen, die stattgefunden haben. Die unabhängige Zeitung Novaya Gazeta schätzt, dass 31,6 Millionen gefälschte Stimmen – fast die Hälfte der Gesamtzahl – in die Auszählung eingeflossen sind. Dieser sogenannte Sieg ist dennoch ein fragiler Sieg – und weit entfernt von dem durchschlagenden Sieg, den er präsentieren will.
Was die Unterstützung der Ukraine betrifft, scheint die Einigkeit des Westens zu bröckeln. Hat Putin den Westen jetzt da, wo er ihn gern hätte?
Nein, noch nicht. Das Sorgenkind sind natürlich die USA. Wir hatten diese große Blockade im Kongress, was die Genehmigung weiterer Hilfe für die Ukraine betrifft. Seit Beginn des Krieges ist die Unterstützung für die Ukraine an der Basis der Republikanischen Partei erheblich zurückgegangen. Der rechtsextreme MAGA-Flügel wird einflussreicher, das spielt Putin in die Karten. Der große Test aber steht mit den US-Wahlen noch bevor. Was Europa betrifft, sehe ich es anders: Es war ein starker Schritt von Präsident Macron und der EU-Kommission, die Ukrainehilfe fortzusetzen und sich zu bemühen, Europas eigene Verteidigungsindustrie aufzubauen. Abgesehen von ein paar Ausrutschern des Bundeskanzlers Olaf Scholz steht die EU einigermaßen geeint hinter der Ukraine.
Was kritisieren Sie an den „Ausrutschern“?
Der Bundeskanzler ist zögerlich. Er hat anscheinend Angst, die Entsendung von Taurus-Marschflugkörpern könne zu einer Eskalation führen. Das Vereinigte Königreich und Frankreich haben jedoch ähnliche Langstreckenraketen in die Ukraine geschickt, und es ist nichts passiert. Es scheint also eine Blockade im Kopf des Bundeskanzlers zu sein. Damit gefährdet er Europa, denn Putin ermöglicht diese Zögerlichkeit, in der Ukraine die Oberhand zu gewinnen. Inzwischen gehen Geheimdienstberichte schon davon aus, dass Russland ab 2026 das Baltikum angreifen könnte.
Halten Sie eine militärische Niederlage Russlands für möglich?
Das kommt darauf an, wie man Niederlage definiert. Es gab einen Punkt vor etwa einem Jahr, als Putins Thron gewackelt hat, als Russland militärisch schwach war und Jewgeni Prigoschin einen Putsch plante. Es besteht immer noch die Möglichkeit, Russland derart militärisch zu schwächen. Aber nur, wenn der Westen die Kurve kriegt und die Ukraine in die Lage versetzt, sich nicht nur selbst zu verteidigen, sondern tatsächlich einen bedeutenden militärischen Angriff an der Frontlinie zu starten. Die Frontlinie ist aber über 1.000 Kilometer lang. Es war also einigermaßen verrückt, dass die USA vergangenes Jahr nur 12 Brigaden angemessen ausgestattet haben. Ohne Unterstützung in der Luft, ohne F-16, war es unmöglich für die Ukraine, bedeutende Durchbrüche zu erzielen. Der Westen muss umdenken, die Waffenindustrie muss mehr produzieren.
Die Frau
Belton, Jahrgang 1973, war von 2007 bis 2013 Auslandskorrespondentin in Moskau. Heute arbeitet sie als Investigativjournalistin für die „Washington Post“.
Das Buch
Beltons Buch „Putins Netz“ (Verlag HarperCollins) gilt als Standardwerk über die russischen Machthaber.
Putins Rüstungsindustrie floriert derweil.
Genau. Aber die Inflation in Russland steigt. Wenn die russische Wirtschaft immer mehr unter Druck gerät, wenn Putins Kriegswirtschaft nicht mehr funktioniert, könnte im kommenden Jahr ein Punkt kommen, an dem die Stunde der Ukraine schlägt – und sie wieder in der Lage ist anzugreifen.
Sie haben von einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur gesprochen. Mit Blick auf den Aufstieg der Populisten: Wie sehr hängt die von politischen Entwicklungen ab?
Es wird entscheidend, wie die AfD bei den Bundestagswahlen 2025 in Deutschland und Marine Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen in Frankreich 2027 abschneiden werden. Aber erst mal steht uns im Juni eine Europawahl bevor. Russland bemüht sich, die Stimmen für die rechtsextremen Parteien in Frankreich, Deutschland, in anderen europäischen Ländern und in Amerika zu stärken und setzt auf Desinformationskampagnen. Unsere Recherchen für die Washington Post haben gezeigt, dass der Kreml Agenten im Westen einsetzt – etwa den ehemaligen Front-National-Politiker Jean-Luc Schaffhauser, der in der Vergangenheit geholfen hat, Kredite für Le Pens Partei zu organisieren. Im Moment arbeitet er daran, eine Liste von rechtsextremen europäischen Führern für die Wahlen zum Europäischen Parlament zusammenzustellen. Wenn es Russland gelingt, die politische Ordnung in Europa dahingehend zu destabilisieren, dass russlandfreundliche Parteien an Macht gewinnen, wird es auch keine gemeinsame europäische Verteidigungsindustrie geben. Wir müssen uns im Klaren darüber sein, dass Russland alles versuchen wird, dieses Ziel zu erreichen.
Sie haben 2023 über die Verbindungen von Sahra Wagenknecht nach Russland geschrieben und die Strategie des Kremls, links- und rechtspopulistische Parteien in Deutschland zu stärken, um eine Querfront zu ermöglichen. Nun hat Wagenknecht eine eigene Partei. Ist das im Sinne des Kremls?
Ich glaube, es ist ein bisschen Wunschdenken des Kremls, dass eine Zusammenarbeit von Bündnis Sahra Wagenknecht und AfD zustande kommen könnte. Die meisten AfD-Mitglieder, mit denen ich gesprochen habe, sagten, dass dies aufgrund der politischen Agenda Wagenknechts nicht wirklich möglich sei. Einer jedoch, der AfD-Abgeordnete Petr Bystron, erklärte, dass dieses Bündnis bereits bei den Protesten gegen Pandemiemaßnahmen in Gestalt der Querdenker bestand, es müsse nur durch eine neue Krise reaktiviert werden. Bystron hat gute Verbindungen zu Russland, seine Frau ist mit Sergej Lawrow befreundet, er prahlt mit seiner guten Beziehung zu Steve Bannon.
Können Sie uns über das Propagandaressort des Kremls berichten? Sie haben kürzlich gesagt, der Putin-Vertraute Sergej Kirilenko habe dort nun eine entscheidende Funktion.
Kirilenko ist der erste stellvertretende Chef des Kremls. Seine Aufgabe war es, die Innenpolitik zu überwachen – zum Beispiel dafür zu sorgen, dass die Wahlen in Russland nach dem Willen des Kremls ausgehen. Nachdem die Sender Russia Today und Sputnik in der EU verboten wurden, übernahm er mehr Verantwortung in der Propagandaabteilung. Mit seinem Team ist er für die Überwachung der Medien und des politischen Umfelds in den europäischen Ländern, insbesondere in Frankreich und Deutschland, zuständig. Sie launchen Social-Media-Kampagnen, um die öffentliche Meinung gegen die Ukraine zu beeinflussen. Im Westen haben viele Kirilenko lange für liberal gehalten, genauso wie Putin in Anfangszeiten. Welch fatale Irrtümer.
Der nicht zugelassene russische Präsidentschaftskandidat Boris Nadeschdin hat kürzlich insinuiert, er halte es immer noch für möglich, Russland von innen zu reformieren.
Es wäre möglich, Russland von innen heraus zu reformieren, wenn der Kreml Nadeschdin erlaubt hätte, als Präsidentschaftsanwärter zu kandidieren. Aber wenn sogar er als Kandidat vom Rennen ausgeschlossen wird, ist das realitätsfern. Nadeschdin sagt, er würde mit seiner Anti-Kriegs-Agenda 30 bis 35 Prozent Unterstützung aus der russischen Bevölkerung bekommen. Kein Wunder, dass der Kreml Angst bekommen hat.
Was, wenn Donald Trump die US-Wahlen gewinnt?
Daran wage ich nicht einmal zu denken, denn Trump hat bereits sehr deutlich gemacht, dass er die NATO auflösen könnte, wenn er der Meinung ist, dass bestimmte Mitglieder nicht genug Beiträge zahlen. Wir wissen nicht, was passiert. Wird Trump Putin Tür und Tor öffnen, damit er im Baltikum einmarschieren kann? Es ist sehr wichtig, dass sich die europäischen Regierungen auf diese Situation vorbereiten.
Sie haben lange Zeit in Moskau gearbeitet. Sie haben Putin dort oft gesehen…
…ich bin ihm nur bei den Pressekonferenzen begegnet. Ich kam 1998 nach Moskau, als er Chef des Geheimdienstes FSB war. Für mein Buch „Putins Netz“ habe ich aber mit vielen Leuten gesprochen, die ihm sehr nahe stehen.
Wie haben Sie selbst ihn damals wahrgenommen?
Wie eine kleine Wizard-of-Oz-Figur, um den herum diese riesige Staatsmaschinerie und die Entourage ist. Und er ist der kleine Kerl, der sich hinter einem Vorhang versteckt und diese Maschine steuert und der versucht, den Leuten Angst zu machen. Aber man muss eben immer mit ihm rechnen, sein Gespür und sein Wissen um Details ist unglaublich. Er ist ein Taktiker, wenn auch kein guter Stratege. Eigentlich ist er ein kleiner und kleinkarierter Mann. Vielleicht hat er einen Minderwertigkeitskomplex, jedenfalls sind Statusfragen für Putin sehr wichtig.
In welchen Momenten ist er schwach?
Wir haben gesehen, dass er manchmal in Krisen die Situation nicht unter Kontrolle hatte. Das erste Mal im August 2000, als die Kursk gesunken ist. Putin verschwand daraufhin für ein paar Tage und wollte sich einfach nicht damit befassen. Nach der Prigoschin-Meuterei haben wir es noch einmal sehr deutlich gesehen. Es gab zunächst keine Befehle aus dem Kreml, Putin war völlig gelähmt. Und nun, nach dem Anschlag in Moskau, brauchte er wieder 19 Stunden, um zu reagieren.
Der populärste Oppositionspolitiker Alexei Nawalny ist tot. Glauben Sie, dass Nawalnys Team und Julia Nawalnaya seine Rolle übernehmen können?
Wir müssen abwarten, wie es mit der russischen Opposition weitergeht, aber es scheint klar zu sein, dass Putin nichts dem Zufall überlassen will. Gerade erst wurde der ehemalige Stabschef von Nawalny, Leonid Wolkow, in Litauen mit einem Hammer angegriffen. Dieser Druck wird also eindeutig anhalten.
Fühlen Sie sich eigentlich sicher in Großbritannien?
Es gab Klagen gegen mein Buch. Offensichtlich wäre das nicht passiert, wenn ich nicht einige Leute sehr verärgert hätte, aber sie haben den rechtlichen Weg gewählt. Ich denke, ich bin überhaupt keine prominente Person, nicht so wie diese mutigen politischen Aktivisten.
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