Krach um Erklärung zum Weltfriedenstag: „Die“ Wehrmacht war’s nicht
Berger Stadträte von FDP und CDU verweigern einer gemeinsamen Erklärung von Stadt und KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen die Zustimmung. Nun gibt's Streit.
„Während des Zweiten Weltkrieges haben SS und Wehrmacht vor unserer Haustür unvorstellbare Verbrechen begangen“, lautet ein Satz darin. Im von der Wehrmacht 1940 errichteten Kriegsgefangenenlager und dem von der SS betriebenen Konzentrationslager Bergen-Belsen waren während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende Menschen zu Tode gekommen.
Der Text der Erklärung, so die Gemeinde auf ihrer Internetseite, sei „von vielen Parteien, Institutionen, Gewerbetreibenden und Vereinen der Stadt mitgetragen“ worden. Auch im Verwaltungsausschuss des Stadtrates stimmten alle Fraktionen, mit Ausnahme der AfD, zu. Ein aus Termingründen noch fehlender Ratsbeschluss sollte am Donnerstag nachgeholt werden. Eine reine Formsache – so schien es zumindest.
Doch bei der Sitzung des Kommunalparlamentes war es mit der überparteilichen Harmonie vorbei. Der FDP-Mann Martin Hildebrandt meinte, man könne SS und Wehrmacht historisch nicht in einen Topf werfen. Es solle besser „Teile der Wehrmacht“ heißen.
Bergen-Belsen ist bis heute weltweit ein Symbol für die Verbrechen der Deutschen in der NS-Zeit. Die Wehrmacht errichtete 1940 rund 60 Kilometer nordöstlich von Hannover ein Kriegsgefangenenlager. Im April 1943 übernahm die SS Teile des Geländes für ein Konzentrationslager.
Mehr als 52.000 KZ-Häftlinge und rund 20.000 Kriegsgefangene starben in Bergen-Belsen. Allein zwischen Januar und April 1945 starben rund 35.000 Häftlinge – unter ihnen auch das jüdische Mädchen Anne Frank, deren Tagebuch weltbekannt wurde.
Der größte Teil der sowjetischen Kriegsgefangenen kam im Winter 1941/42 durch Hunger, Erschöpfung und Krankheiten um. Die wenigen Baracken im Lager reichten für die große Zahl der Soldaten nicht aus. Die Gefangenen mussten in Erdlöchern oder ganz ohne Schutz leben.
Über die Wehrmachts-Verbrechen, die in Bergen-Belsen und an anderen Orten begangen wurden, informieren umfassend die Dauerausstellung in der Gedenkstätte und die Ausstellung „Aufrüstung, Krieg und Verbrechen. Die Wehrmacht und der Truppenübungsplatz Bergen“.
Auch SPD-Abgeordnete verwahrten sich nach Berichten lokaler Medien gegen eine vermeintliche „Gleichsetzung“ von SS und Wehrmacht. Die CDU schlug vor, die Wehrmacht in der Erklärung ganz außen vor zu lassen. Nach längerer Diskussion vertagte das Kommunalparlament schließlich einen Beschluss zu der von der Bürgermeisterin drei Tage zuvor verlesenen Erklärung.
„Wir haben heute festgestellt: Es gibt da noch einen Dissens“, lautete der Celleschen Zeitung zufolge das Resümee der Sitzung durch den stellvertretenden Bürgermeister Rüdiger von Borcke (SPD). Grünen-Ratsherr Jürgen Patzelt zeigte sich irritiert: „Ich dachte, das ist eine kurze Übung und die Sache geht durch.“ Ebenso die Bürgermeisterin selbst: „Mir fehlen die Worte“, sagte Dettmar-Müller dem Blatt zufolge. „Wir diskutieren hier eine halbe Stunde über Dinge, die eigentlich klar sein sollten.“
Gedenkstätten-Chef Wagner, der die Stiftung zum Jahresende verlässt und nach Thüringen wechselt, war ebenfalls fassungslos. „Die verweigerte Zustimmung der Berger Stadträte zu der gemeinsamen Erklärung von Stadt und Gedenkstätte bestürzt mich zutiefst“, schrieb er auf Twitter und Facebook. Im Kriegsgefangenenlager Bergen-Belsen seien zwischen 1940 und 1945 im Gewahrsam der Wehrmacht 20.000 vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene gestorben, 52.000 weitere Menschen seien zwischen 1943 und 1945 im KZ Bergen-Belsen unter Verantwortung der SS ums Leben gekommen: „Darauf bezieht sich der Satz in der Erklärung, dem die Stadträte nicht zustimmen wollen.“
Die Institutionen SS und Wehrmacht seien „unterschiedlich strukturiert“ gewesen, so Wagner, „aber beide waren verantwortlich für unvorstellbare Verbrechen“. Das bedeute nicht, dass sich jeder Wehrmachtssoldat an Verbrechen beteiligt habe, dies werde in der Erklärung aber auch gar nicht behauptet. Die im Rat erhobene Forderung, die Wehrmacht aus der Erklärung zu streichen, offenbare „ein rückwärtsgewandtes, gegen unsere aufgeklärte und wissenschaftlich fundierte Erinnerungskultur gerichtetes Geschichtsbild, das eher an die 1950er als an die 2020er Jahre erinnert“.
Wagners Stellungnahme hat nun wiederum den FDP-Kreistagsabgeordneten Hildebrandt auf den Plan gerufen. Wagner liege falsch, wenn er behaupte, die Liberalen hätten mit CDU und AfD die Erklärung zum Weltfriedenstag nicht mitgetragen. Über die Erklärung sei schließlich gar nicht abgestimmt worden, „sondern sie wurde vertagt“.
Der von ihm gestellte Änderungsantrag, so Hildebrandt, habe zum Ziel gehabt, „SS und Wehrmacht nicht undifferenziert in einen Topf zu werfen, sondern von SS und Teilen der Wehrmacht im Text zu sprechen“. Überhaupt habe er von Wagner erwartet, „dass er seine Erklärungen nicht nur auf dem Hörensagen und einem Presseartikel abstützt, sondern sich bei mir als Antragsteller der Textänderung informiert“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen