: Kopftuch nur noch manchmal ein Problem
Schwarz-Rot will das Neutralitätsgesetz an die Rechtsprechung anpassen: Nur noch im konkreten Einzelfall sollen Kopftuchverbote für Lehrerinnen möglich sein. Die Opposition kritisiert das als Hintertür für weitere Diskriminierungen

Von Susanne Memarnia
Die Berliner Grünen und Linken kritisieren die geplante Änderung des Neutralitätsgesetzes als Mogelpackung. An der rechtlichen Unsicherheit für Kopftuch tragende Lehrerinnen werde sich nichts ändern, sagte die Sprecherin für Antidiskriminierung der Grünen-Fraktion, Tuba Bozkurt, der taz. Denn es bleibe unklar, was genau unter einer konkreten Gefährdung des Schulfriedens oder Verletzung der staatlichen Neutralität zu verstehen ist. „Durch diese Hintertür könnte die Schulaufsicht jederzeit einer Lehrerin kündigen, es gibt keine Rechtssicherheit für muslimische Frauen.“
So sieht es auch ihre Kollegin von der Linken, Elif Eralp. „Diese Minimallösung ist eine Enttäuschung für Musliminnen aus Sicht von Antidiskriminierungspolitik.“ Ein Verbot sei im Einzelfall weiter möglich, „obwohl eine Gefährdung des Schulfriedens nicht vom bloßen Tragen eines Kopftuchs ausgehen kann“.
Schwarz-Rot hatte am Wochenende unter anderem beschlossen, das Berliner Neutralitätsgesetz an höchstrichterliche Rechtsprechung anzupassen. Es solle künftig nur noch greifen, „wenn aufgrund objektiv nachweisbarer und nachvollziehbarer Tatsachen eine hinreichend konkrete Gefährdung oder Störung des Schulfriedens oder der Neutralität des Staates belegbar ist“. Eine Entscheidung darüber „trifft die Schulaufsichtsbehörde auf Grundlage einer verhältnismäßigen Einzelfallprüfung“, formulierten die Fraktionsspitzen von CDU und SPD.
Bisher verbietet das Gesetz das Tragen religiös konnotierter Kleidung für Lehrer – außer an Berufsschulen – sowie für Polizisten und Justizangestellte. Dieses Verbot hatten das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Jahr 2015 sowie das Bundesarbeitsgericht (BAG) im Jahr 2020 zumindest für Lehrer*innen für verfassungswidrig erklärt, da es die Religionsfreiheit verletze.
Das bloße Tragen religiöser Kleidung sei an sich kein Hinweis auf eine Missachtung der staatlichen Neutralität, so die Richter. Für ein Verbot müsse eine konkrete Gefährdung des Schulfriedens im Einzelfall nachweisbar sein. Wie genau dies aussehen könnte, hatten die Gerichte nicht erklärt.
In der Praxis ging es bisher fast immer um Lehrerinnen mit islamischem Kopftuch, verboten sind in Berlin aber auch Kippa, Turban oder Habit. Auch die erwähnten Gerichtsurteile kamen durch Klagen von Kopftuch tragenden Lehrerinnen zustande. Ein erstes BVerfG-Urteil von 2003 zu Lehrerinnen mit Kopftuch war überhaupt der Grund, das Neutralitätsgesetz in Berlin 2005 einzuführen.
Juristisch bewegt sich Berlin spätestens seit dem BAG-Urteil von 2020 auf wackeligem Grund. Nach langem Zögern und einer verlorenen Beschwerde vor dem BVerfG Anfang 2023 schrieb die Bildungsverwaltung im März 2023 in einem Rundschreiben an die Schulen, das Neutralitätsgesetz werde bei Lehrerinnen nicht mehr angewandt. Vereinzelt wurden seither tatsächlich „Kopftuch-Lehrerinnen“ eingestellt, aber laut der Claim-Allianz, einem zivilgesellschaftlichen Bündnis gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, wurde mindestens in einem Fall die Bewerbung einer Frau mit Verweis auf ihr Kopftuch abgelehnt.
Rima Hanano, Co-Geschäftsführerin von Claim, sieht deshalb in der geplanten Reform keinen Fortschritt. Sie sagt: „Schulfrieden ist ein unklarer Begriff und als Orientierung nicht hilfreich.“ Es bleibe weiter die Frage, was den Frieden an einer Schule stört: „Der ungeübte Umgang mit Diversität oder das Kopftuch. Ich würde sagen, ersteres.“
Laut Schwarz-Rot soll die geplante Änderung des Gesetzes der Anpassung an die Rechtsprechung und der „aktuell gelebten Berliner Praxis“ dienen. Tuba Bozkurt von den Grünen bezweifelt das. Sie sprach von einem „faulen Kompromiss“ zwischen SPD und CDU, der nur suggeriere, dass etwas geschieht. Zum einen sei die Formulierung „hinreichend konkrete Gefährdung des Schulfriedens“, die auf „objektivierbare Tatsachen“ gestützt werden soll, eine „Gummiformel“. Zum anderen seien die bezirklichen Schulaufsichtsbehörden keine neutrale Instanz, um darüber zu entscheiden.
Grüne und Linke fordern daher ebenso wie Claim weiterhin die komplette Abschaffung des Neutralitätsgesetzes. Das Verbot der Überwältigung sowie das Gebot der Neutralität würden ohnehin für alle Lehrer*innen gelten, sagte Bozkurt. „Ob es befolgt wird, ist nicht an der Kleidung festzumachen, sondern am Handeln.“
Das Gleiche gelte auch für Polizisten und Justizangestellte, die beiden anderen vom Neutralitätsgesetz betroffenen Berufsgruppen. Linke und Grüne wollen sie ebenfalls vom Verbot befreit wissen, „damit alle Menschen die gleichen Berufszugänge haben und sich die Vielfalt Berlins auch in seinem öffentlichen Dienst widerspiegelt“, wie Elif Eralp von der Linken sagte.
Die Koalition will dagegen bei Polizei und Justiz alles beim Alten lassen. Das sei „auch leicht nachzuvollziehen“, erklärte Martin Matz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, „wenn man sich konkrete Einsatzsituationen der Polizei oder richterliche Entscheidungen vorstellt, in denen der von hoheitlichem Handeln betroffene Bürger und die namens des Staates tätige Person gut sichtbare Zeichen unterschiedlicher Religionen tragen“.
Rima Hanano, Claim–Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit
Dass es anders gehen könnte, zeigt laut Bozkurt ein aktueller Fall aus Bremen. Dort wurden im Mai die neuen Anwärter für den Kommissardienst öffentlich präsentiert, darunter auch ein Mann mit Sikh-Turban. Ob das ein Beleg für die Offenheit der Bremer ist, muss sich aber noch zeigen. Denn der bisher in Deutschland einmalige Fall hat an der Weser sogleich eine Debatte über Neutralität im Staatsdienst ausgelöst, berichtet das Lokalmagazin der ARD „buten und binnen“.
Zurück nach Berlin: Orkan Özdemir, Sprecher der SPD-Fraktion für Antidiskriminierung, hätte sich persönlich auch mehr vorstellen können, wie er der taz sagte. Aber man arbeite ja in einer Koalition – und die vorliegende Formulierung sei der Kompromiss, der mit der CDU möglich sei. „Von mir aus hätte man die Einschränkung, unter welchen Umständen das Neutralitätsgesetz in der Schule weiter gilt, ganz streichen können.“ Schließlich sei auch in anderen Bundesländern mit weiter reichenden Regelungen „das Abendland bisher nicht untergegangen“.
Persönlich hätte Özdemir auch kein Problem damit, das Tragen religiöser Kleidung für Polizisten und Justizangestellte zu erlauben. „Wir müssen uns heute schon fragen, wie zeitgemäß solche Regeln angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen noch sind.“ Aber diese Diskussion müsse auch in der SPD noch weitergeführt werden.
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