Kommunalwahlen in Sachsen: Die Schlacht um Görlitz
In der Stadt an der polnischen Grenze könnte am Sonntag der erste AfD-Oberbürgermeister Deutschlands gewählt werden.
Außerdem geht es um den prestigeträchtigsten Wahlkreis in Sachsen-Niederschlesien. Völlig unerwartet verlor der damalige Generalsekretär der Sachsen-Union Michael Kretschmer bei den Bundestagswahlen 2017 hier sein Direktmandat an Tino Chrupalla von der AfD. Dennoch wurde Kretschmer ein Vierteljahr später als Nachfolger des resignierten Stanislaw Tillich zum Ministerpräsidenten gewählt.
Als Oberbürgermeisterkandidat der CDU tritt am bevorstehenden Sonntag ein ungleich blasserer Mann an, der die Unterstützung der Bundesspitzen wirklich nötig hat. Der 51-jährige Octavian Ursu ist ein etwas gedrungen wirkender Mann. Ein gebürtiger Rumäne, der in Bukarest und Düsseldorf Musik studiert hat und 1990 Solotrompeter der umstrukturierten Neuen Lausitzer Philharmonie mit Sitz in Görlitz wurde.
Dort avancierte er zum Gesamtbetriebsratsvorsitzenden des Hauptmann-Theaters Görlitz-Zittau. Auch in der CDU, der er 2009 beitrat, über den CDU-Kreisvorsitz bis zum 2014 errungenen Landtags-Direktmandat ging es nach oben.
Ein Frontschwein aber ist Ursu nicht. Nennenswerte Sätze hört man kaum von ihm, auch auf dem naheliegenden kulturpolitischen Gebiet nicht. Der nette Typ könnte eher das gespaltene Görlitz ein bisschen mehr versöhnen. Auf der einen Seite oder genauer auf beiden Seiten der seit dem Krieg zwischen Polen und Deutschen geteilten Stadt stehen Künstler, Bildungsbürger, überzeugte Europäer. Viele Bürger im noch 56.000 Einwohner zählenden westlichen Stadtteil aber sind durch die erhöhte Kriminalität seit der Grenzöffnung 2004 verängstigt.
Gefundenes Fressen wie überall für die AfD. Deren Kandidat Sebastian Wippel ist nicht nur Polizeikommissar und Leutnant der Reserve. Seit der gebürtige Görlitzer 2014 in den sächsischen Landtag einzog, polarisiert er als innenpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion und trat als Hardliner gegenüber Flüchtlingen auf. „Mit Grenzen lebt sich’s besser“, lautet jetzt ein Wahlkampfmotto. Auf AfD-Foren in der Lausitz schürt Wippel Panik vor dem „Desaster“ des Kohleausstiegs.
Grüne Kandidatin gegen Sicherheitshysterie
Der brave Octavian Ursu versucht nun, ausgerechnet auf diesem AfD-Kampffeld zu punkten. Auf Großplakaten zeigt er sich auf der Altstadtbrücke mit hochrangigen Polizisten. Ganz anders die dritte chancenreiche Kandidatin, Franziska Schubert von den Grünen. Gerade 37 geworden, hat die selbstbewusste Landtagsabgeordnete nicht nur Europäische Studien in Osnabrück und Budapest studiert, sondern befasst sich als Promovendin an der TU Dresden auch mit Grenzregionen.
So wird sie selbstverständlich zum Europapicknick mit Theateraufführung über den griechischen Europa-Mythos an die polnische „Tecza“-Alternativschule eingeladen, die mit einer deutschen freien Schule eng kooperiert. Die Solidarität mit den von der restaurativen PiS-Politik bedrohten polnischen Frauen liegt ihr besonders am Herzen. Beim Auftritt im Jugendzentrum „Wartburg“ begegnet sie der Sicherheitshysterie mit der sachlichen Feststellung, dass die Kommune neben Land und Bund nur sehr begrenzt für das Grenzregime zuständig sei.
Eine streitlustige Frau und zugleich eine versöhnliche Christin, die in AfD-Mitgliedern und Wählern zuerst Mitmenschen sehen will. Denen möchte sie die Augen öffnen, dass die AfD selbst längst zu einer „Systempartei“ geworden ist, „die wie eine Sekte geführt wird“.
Eine aktuelle Umfrage der Sächsischen Zeitung sieht Ursu mit 40 Prozent vorn, gefolgt von Wippel mit 28 Prozent. Die von Grünen, SPD und den Bündnissen „Motor Görlitz“ und „Bürger für Görlitz“ unterstützte Franziska Schubert landet mit 26 Prozent knapp dahinter. Jana Lübeck von der Linken käme nur auf 6 Prozent.
Kaum ein Görlitzer glaubt indessen der Prognose. Blogger Mike Altmann begründet in seinem „Görlitzer Anzeiger“, warum: Das beauftragte Institut IM Field vergaß im ersten Anlauf die Frage nach der Linken, ignorierte mit Festnetz-Interviews die Generation Handy und bezog die nicht wahlberechtigte Gemeinde Schöpsthal mit ein. Laut gleicher Umfrage meinen nur 52 Prozent, ein AfD-Oberbürgermeister würde dem Ansehen der Stadt schaden. Die Blauen könnten bei der Wahl ein Zeichen setzen, das man in ganz Deutschland diskutieren wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen