Kommunale Aufnahme von Geflüchteten: Ohne Seehofer alles gut?
Die Ampelregierung verspricht eine Kehrtwende in der Migrationspolitik. Dürfen Kommunen bald freiwillig Menschen aufnehmen?
Was die beiden verbindet: Sie wollen freiwillig Geflüchtete aufnehmen, unter ihrer Amtsführung haben Flensburg und Rottenburg das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ mitgegründet. Über zweihundert Städte, Kommunen und Kreise im ganzen Land haben sich bis heute angeschlossen. Sie alle haben Grund zur Freude. Und das liegt an der neuen Bundesregierung.
SPD, Grüne und FDP nämlich versprechen eine Kehrtwende in der Migrationspolitik. Die Ampelkoalition will mehr Geflüchtete legal aufnehmen, mehr Familien zusammenführen – und Schutzsuchenden in Deutschland eine bessere Perspektive bieten. Was die Oberbürgermeister:innen Lange und Neher besonders freut: Die neue SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser wird das Engagement der Kommunen aller Voraussicht nach nicht mehr so ausbremsen wie ihr Vorgänger Horst Seehofer von der CSU.
„Die Aufnahmebereitschaft in Deutschland und der EU wollen wir stützen und fördern“, verspricht die Ampel im Koalitionsvertrag. Die Kommunen werden an dieser Stelle zwar nicht explizit genannt. Fachpolitiker:innen, die den Koalitionsvertrag mit ausgehandelt haben, versichern jedoch, dass es ein pauschales Nein wie unter Seehofer nicht mehr geben wird.
Seehofer dagegen
Wie viel Frust der Groko-Innenminister hinterlassen hat, kann Oberbürgermeisterin Lange berichten. 2018 schon fasste ihre Stadt den Beschluss, mehr Menschen in Not aufnehmen zu wollen. Dank der Stabsstelle Integration, die Lange im Rathaus angesiedelt hat, und den vielen ehrenamtlichen Helfer:innen konnte Flensburg einen Großteil der zugewiesenen Schutzsuchenden gut integrieren.
In einem Brief an Seehofer teilte Lange mit, dass Flensburg locker 20 weitere Geflüchtete versorgen könne. Als Antwort erhielt sie eine förmliche Absage. „Er ist überhaupt nicht auf unser Angebot eingegangen“, erinnert sich Lange. Auch Bundesländer wie Berlin oder Thüringen, die freiwillig zusätzliche Menschen aufnehmen wollten, ließ Seehofer abblitzen.
Das Aufenthaltsgesetz schreibt vor, dass die Bundesländer die Zustimmung des Bundesinnenministeriums (BMI) einholen müssen, wenn sie Menschen aus humanitären Gründen bei sich aufnehmen wollen. Von kommunalen Aufnahmeprogrammen ist dort gar nicht die Rede. Anträge der Grünen und Linken im Bundestag, die den Ländern und Kommunen mehr Spielräume verschaffen wollten, scheiterten in der vergangenen Legislaturperiode. Auch das Bündnis „Städte Sicherer Häfen“ hat vergeblich versucht, die vergangene Bundesregierung für sein Anliegen zu gewinnen. Für ein persönliches Treffen stand der zuständige Innenminister Seehofer aber nie zur Verfügung.
„Natürlich fühlen wir uns in unserem Engagement nicht ernst genommen, wenn man so ignoriert wird“, sagt Lange am Telefon. Auch der CDU-Mann Stephan Neher ärgert sich über Seehofer. „Unsere Hilfe hat er mit dem Argument abgelehnt, dass der Bund die Kommunen nicht überfordern dürfe. Mit uns gesprochen aber hat er nie.“ Lange und Neher setzen jetzt große Hoffnungen darauf, dass die Ampel ihr Anliegen hört – und es bald direkte Gespräche geben wird.
Geld direkt von der EU
Darauf baut auch Gesine Schwan. Die Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission und zweimalige Bewerberin um das Bundespräsidentenamt wirbt schon lange für eine stärkere Einbindung der Kommunen bei der Aufnahme von Asylsuchenden – und zwar EU-weit. „Wir erleben seit Jahren, dass die Nationalstaaten die Aufnahme und Verteilung von Geflüchteten blockieren“, sagt Schwan. „Wir brauchen deshalb eine demokratische Wiederbelebung von unten.“
Die Idee, dass die Kommunen das Verteilungsproblem der Europäer lösen könnten, hat sie von der portugiesischen EU-Parlamentarierin Maria João Rodrigues. „Die Grundidee bei ihr war: Jeder Staat, der Geflüchtete aufnimmt, soll direkt von der EU Geld erhalten. Ich habe das dann auf die Kommunen übertragen.“ So sollten Schutzsuchende auch in den Mitgliedsstaaten, in denen die Nationalregierungen eine verbindliche Aufnahme ablehnen, Schutz finden können.
Das Projekt, das Schwans Idee in den vergangenen drei Jahren konkretisiert hat, heißt Kommunale Integrations- und Entwicklungsinitiative (Midi). Angesiedelt ist es an der Humboldt-Viadrina Governance Platform, deren Präsidentin Schwan ist. „Das Modell, das wir dort entwickelt haben, will ich möglichst bald der neuen Bundesinnenministerin vorstellen“, sagt Schwan. Nancy Faeser ist zwar Parteifreundin, aber noch keine Verbündete.
Das Modell, von dem Schwan Faeser überzeugen möchte, besteht aus vier Bausteinen: einem Europäischen Integrations- und Entwicklungsfonds, aus dem aufnahmebereite Kommunen bezahlt werden. Kommunale Entwicklungsbeiräte, die die demografischen und wirtschaftlichen Bedürfnisse der Gemeinde mit der Integration von Schutzsuchenden zusammendenken. Ein Matching-System, das die Wünsche der Geflüchteten mit der Situation vor Ort abgleicht. Und ein Netzwerk, über das sich die beteiligten Kommunen austauschen.
Kampf gegen Stereotype
Entwickelt haben das Modell Malisa Zobel, die die Kommunale Integrations- und Entwicklungsinitiative von Beginn an geleitet hat, und ihr Team. „Wir wollen damit auch dem negativen Bild von Migration entgegentreten“, sagt Zobel. Noch dominiere in Teilen der Bevölkerung das Narrativ, Geflüchtete seien eine Belastung. Die kommunale Aufnahme könne helfen, dieses stereotype Bild geradezurücken.
Voraussetzung dafür aber sei, so Zobel, dass der vorgeschlagene EU-Fonds nicht allein die Kosten für die Unterbringung und Versorgung der Menschen bezahlt. „Es muss auch zusätzliche Gelder geben, die die Kommune flexibel einsetzen kann – und die bestenfalls allen zugutekommt“, fordert Zobel. Etwa für eine neue Turnhalle, mehr Personal für die Kita oder neuen Wohnraum.
Konkret schlägt die Politikwissenschaftlerin vor, die Pro-Kopf-Pauschale von rund 10.000 Euro im Jahr, die die EU heute schon bei der Umverteilung von Geflüchteten über Relocation-Programme an die Aufnahmeländer zahlt, zu verdoppeln – und direkt der entsprechenden Kommune zu überweisen. Nähme Flensburg beispielsweise hundert Menschen auf, hätte die Stadt jährlich eine Million Euro für deren Versorgung auf dem Konto. Und eine weitere Million für Integrationsprojekte.
„Wenn das Matching-Programm dann noch dafür sorgt, dass Menschen dahin kommen, wohin sie möchten und wo die Kommune ihnen gute Perspektiven bieten kann, hätten wir eine Win-Sitution für alle Beteiligten“, so Zobel.
„Wie Parship“
Ein Matching-Verfahren fände auch Oberbürgermeister Stephan Neher aus Rottenburg gut. Dann stünden die Chancen besser, dass die Menschen längerfristig an dem Ort bleiben. Die Betriebe in seiner Stadt haben schon einige Geflüchtete ausgebildet, erzählt Neher nicht ohne Stolz. Der Oberbürgermeister erzählt aber auch von einem gewissen Frust. „Nicht alle Azubis wollen nach der Ausbildung in Rottenburg bleiben.“
Malisa Zobel stellt sich eine Art digitale Kontaktbörse vor, auf der sich Schutzsuchende die Kommune aussuchen können, die ihnen am meisten zusagt. „Wie Parship“, sagt sie. „Es wäre ein erster Schritt, wie sich Menschen möglichst frei in Europa bewegen können – wie EU-Bürger:innen auch.“ Doch lässt sich dieses Modell in die Praxis umsetzen? In einem Europa, in dem viele Staaten die humanitäre Aufnahme von Menschen am liebsten weiter beschränken möchten und immer mehr Geld in den Schutz der Außengrenzen fließt?
Malisa Zobel und Gesine Schwan gehen davon aus, dass eine EU-weite Aufnahme durch Kommunen nur mit einer Koalition der Willigen machbar wäre. Die europäischen Verträge zumindest lassen zu, dass sich eine Gruppe von EU-Staaten in einer „verstärkten Zusammenarbeit“ gemeinsame Regeln setzt.
In einem aktuellen Rechtsgutachten kommt die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) zu dem Schluss, dass die EU auch einen Integrations- und Entwicklungsfonds einrichten könne, sofern daraus tatsächlich Integrationsmaßnahmen für Schutzsuchende bezahlt würden. Ob eine Kommune Gelder bei dem Fonds beantragen darf, läge aber in der Hand der einzelnen Mitgliedsstaaten. „Noch fehlt dazu der politische Wille“, beobachtet Zobel.
Europaweite Vernetzung
Was ihr aber Hoffnung macht: Immer mehr Kommunen wollen der Abschottungspolitik der EU etwas entgegensetzen. So haben sich im Sommer 33 europäische Städte zur „Internationalen Allianz der Sicheren Häfen“ zusammengeschlossen – darunter Palermo, Barcelona, Amsterdam, Athen und Marseille. Auch Flensburg und Rottenburg am Neckar sind vertreten. Mehr als 600 Kommunen in Europa haben sich bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen. Auch polnische Städte sind dabei.
Oberbürgermeisterin Simone Lange hofft, dass von der neuen Bundesregierung eine Signalwirkung in die Nachbarländer ausgeht. „Wenn die anderen sehen, dass Kommunen in Deutschland bei der freiwilligen Aufnahme vorangehen, machen sie vielleicht eher mit.“ Bis zum Sommer, hofft Lange, bekommt sie grünes Licht von der Ampelregierung in Berlin. Im Juni nämlich lädt Flensburg die anderen „Städte Sicherer Häfen“ zum Bündnis-Treffen an die Ostsee. Da würde sie am liebsten einen Erfolg vermelden.
Ob es so weit kommt, ist allerdings offen. Auf Anfrage der taz heißt es aus dem nun SPD-geführten Innenministerium, dass das BMI „keine Veranlassung“ für die Schaffung einer gesetzlichen Möglichkeit für kommunale Aufnahmeprogramme sehe. „Bei aller Wertschätzung für das humanitäre Engagement der Kommunen können Migrationsfragen nicht auf kommunaler Ebene gelöst werden.“
Selbst die Grünen geben sich bei der freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten zurückhaltend. „Wir wollen ja zeigen, dass der Bund wieder selbst Verantwortung übernimmt“, sagt die grüne Migrationspolitikerin Filiz Polat, die den Koalitionsvertrag mitverhandelt hat. Dieser Anspruch sei in der Migrationspolitik der Ampel auch klar erkennbar. Deshalb sei sie mit dem Ergebnis „sehr zufrieden“.
Oder anders formuliert: Die Ampel will selbst agieren, um mehr Schutzsuchende aufzunehmen – die Kommunen braucht sie dazu nicht.
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