Kommentar zur Sozialdemokratie: Der Abstiegskandidat
Eine schnelle Rettung der SPD ist nicht in Sicht. Keine andere Partei hat ein solches Personalproblem – und inhaltlich eine so geringe Bandbreite.
Zehn schnelle Punkte, wie sich die SPD vor dem Untergang retten könnte, hat Stefan Reinecke in der Wochenendausgabe der taz aufgeschrieben: Agenda weg! Erbschaftssteuer her! Mehr Selbstbewusstsein! Raus aus der Großen Koalition! Vieles davon scheint richtig. Und trotzdem: Die Krise der einstigen Volkspartei ist inzwischen zu groß und vielschichtig, als dass sie jetzt, 2018, noch mit der schnellen Umsetzung einiger Punkte zu bewältigen wäre.
Warum die Sozialdemokraten so tief in die Krise geraten konnten, lässt sich auf fast jedem SPD-Parteitag besichtigen: die Sitzordnung. Oben thront der Parteivorstand mit Namensschildern, unten die einfachen Delegierten. Wer aus dem Vorstand bei Redebeiträgen zu wenig jubelt, gegen wichtige Anträge stimmt – all das wird von den Kameras registriert. Was zur Konsequenz hat, dass der Vorstand meist geschlossen auftritt. Die SPD sozialisiert ihre Führung dazu, Fehler zu beklatschen.
Auch deshalb ist das Personal an der Spitze handwerklich immer schlechter geworden: angefangen vom Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, der seine hohen Vortragshonorare nicht als Problem erkannte, über den ratlosen und verlorenen Martin Schulz bis hin zu Andrea Nahles und ihrem Agieren in der Schulz-als-Außenminister- und Maaßen-als-Staatssekretär-Frage. Vielleicht hätte die SPD mit einer offenen Diskussionskultur auf Parteitagen auch die Bedeutung des Wohnungsthemas vor Linken und Grünen erkannt.
Parteien müssen immer den Spagat zwischen Geschlossenheit und Innovation bewältigen. Sind sie intern zu gespalten, verlieren sie an Zustimmung – wie die SPD während des Führungsstreits vor dem Mannheimer Parteitag, den Lafontaine mit seiner Wahl zum Parteichef beendete. Sind sie zu geschlossen, verlieren sie ihr Gefühl dafür, wie sich Gesellschaft verändert, weil es niemand mit abweichenden Meinungen an die Spitze schafft.
Insbesondere Volksparteien müssen zudem eine Breite von Positionen und Charakteren anbieten, um unterschiedliche Wählergruppen anzusprechen. Bei der SPD ist an der Spitze aber die Variationsbreite zu gering: Von Nahles bis Klingbeil dominiert ein Typus, dem man die lange Lebenszeit in den Parteigremien anmerkt und der sich politisch nur in Nuancen unterscheidet. Zu viele Apparatschiks, zu wenig Charismatiker.
Nahles als Spitzenkandidatin?
Angenommen, die SPD stiege aus der Großen Koalition aus: Wer sollte für sie als SpitzenkandidatIn gegen einen authentisch wirkenden Robert Habeck antreten? Andrea Nahles, deren Mimik man ansieht, wenn sie taktisch argumentiert? Der zu hölzern wirkende Olaf Scholz? Solide, aber spröde Landespolitiker wie Stephan Weil? Manuela Schwesig, die gesellschaftspolitisch nur das grünen-nahe Wählerklientel erreichen würde? Die SPD hat – im Gegensatz vor allem zu Union und Grünen – ein Personalproblem, das mittelfristig nicht lösbar ist.
Ohne eine Reform der Parteistrukturen wird es bei der SPD nicht gehen. Sie ist aber nicht kurzfristig zu haben. Und es gibt auch kein einfaches Patentrezept wie die Stärkung der Basis dafür: Es war die bundesweite Basis, die den biederen Rudolf Scharping 1993 zum SPD-Chef kürte. Und es war der Vorstand, der 1992/93 den Asylkompromiss mit der Union gegen die Basis durchsetzte und damit Rot-Grün 1998 mehrheitsfähig machte.
Damit wären wir bei Punkt 6 der Liste von Stefan Reinecke: Er lautet: „Lest Nils Heisterhagen – und folgt ihm nicht!“ Heisterhagen schrieb zwei Jahre lang fast alle deutschen Zeitungen mit Beiträgen zur Zukunft der SPD voll. Er war Grundsatzreferent der SPD-Fraktion in Mainz, bis er im Sommer gegangen wurde (was einiges über den Willen der SPD aussagt, Pluralität auszuhalten). Die SPD solle laut Heisterhagen „innenpolitisch rechts und sozialpolitisch links werden, und sich von Multikulti und libertärem Klimbim befreien“, schreibt Reinecke. Das ist eine zugespitzte Interpretation: Heisterhagen fordert vor allem Realpolitik.
Lange Jahre gab es eine Arbeitsteilung zwischen SPD und Grünen: Die Grünen waren für den utopischen Überschuss zuständig, ohne den kaum eine Bewegung zu haben ist – die SPD für pragmatische Konzepte. Der Streit zwischen beiden Sichtweisen machte Rot-Grün erst mehrheitsfähig.
Grüner Sofortismus
1998 etwa gingen die Grünen mit der Forderung nach der sofortigen Abschaltung aller Atomkraftwerke in den Wahlkampf – und jeder prominente Grüne, der darauf hingewiesen hätte, dass Produktionsausfälle in der Industrie die Folge gewesen wären, hätte vermutlich Probleme mit der eigenen Partei bekommen. Grüne Realos konnten sich damals aber darauf verlassen, dass die SPD den grünen Sofortismus zurückweisen würden. Der Atomausstiegskompromiss war die Folge.
Diese Arbeitsteilung ist zumindest in der Gesellschaftspolitik heute kaum noch vorhanden. Während grüne Fraktionsspitzen ohne Widerspruch aus den eigenen Reihen die Ausdehnung des Asylrechts auf Klimaflüchtlinge ins Spiel bringen, erhält Andrea Nahles in der SPD schon für das Aussprechen der Selbstverständlichkeit „Wir können nicht alle aufnehmen“ Gegenwind. Die SPD hat immer verschiedene Wählerschichten und Flügel integrieren müssen. Dass sie seit 2015 nicht deutlich eine realistischere Migrationspolitik vertreten hat, ist heute eines ihrer Probleme.
Heisterhagens Forderung ist nicht ohne Risiko: Ob die zur AfD vertriebenen Arbeiter zurückkommen, ist ungewiss, dafür könnten die akademischen Mittelschichten und die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in noch größerer Anzahl zu den Grünen überlaufen. Vor allem: Wer sollte eine solche Politik glaubhaft verkörpern?
Der, der den deutschen Jeremy Corbyn hätte machen können, Oskar Lafontaine, ist heute bei der Linkspartei (und dort ähnlich isoliert wie zuletzt in der SPD). Andere, wie Sigmar Gabriel, stehen in der SPD am Rand. Auch hier zeigt sich: Die personelle Bandbreite der Partei ist zu gering. Und deshalb ist der weitere Abstieg der Sozialdemokraten wahrscheinlicher als eine Rettung.
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