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Kommentar zur Diskussion SeenotrettungDie schleichende Selbstaufgabe

Bernd Pickert
Kommentar von Bernd Pickert

Menschenrechte einschränken, um ihre grundsätzliche Akzeptanz nicht zu gefährden? Wer so über Seenotrettung diskutiert, gibt Demagogen recht

„Seenotrettung ist kein Verbrechen“ Foto: dpa

I n sozialen Medien wird gerade heftig über einen Text von Mariam Lau in der Zeit diskutiert. Unter der Überschrift „Oder soll man es lassen?“ (die auf Online dann geändert wurde und für die sich die Chefredaktion inzwischen entschuldigt hat) hatte die Wochenzeitung ein Pro und Contra zur privaten Seenotrettung Geflüchteter im Mittelmeer veröffentlicht.

Mariam Lau schrieb da, warum die Retter „das Problem vergrößern“ und die zivile Seenotrettung eingestellt werden sollte. Warum an der konkreten Argumentation so ziemlich alles falsch ist, dazu hat Kollege Christian Jakob bereits am Freitag auf taz.de alles Wesent­liche gesagt.

Ein Satz allerdings sticht heraus. Über die Retter, schreibt Lau, und das ist als schärfste Kritik gemeint: „Ihr Verständnis von Menschenrechten ist absolut kompromisslos.“

Die Denkfigur, die hinter diesem Satz steht, hat Lau offenbar von John Dalhuisen übernommen, bis vor Kurzem noch Europa-Direktor von Amnesty International. Er hat die Organisation inzwischen verlassen – weil sie ihm zu kompromisslos ist.

Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sagte Dalhuisen: Wenn man auf Rechten beharrt, deren Verwirklichung ein Großteil, gar eine Mehrheit der Bevölkerung inzwischen ablehnt, wird man alles verlieren. Sein Beispiel: Der Ausgang der Italien-Wahl, aber auch insgesamt die Stärkung der Rechten in nahezu allen europäischen Ländern.

Aufgegeben, Menschen überzeugen zu wollen

Mariam Lau folgt diesem Denkmuster, wenn sie schreibt: „Wer mit dem Verweis auf Menschenrechte jede Sicherung der Grenzen zu verhindern versucht, wird am Ende denen in die Hände spielen, die gar kein Asylrecht mehr wollen.“

Glaubt wirklich jemand, die Rassisten geben Ruhe, wenn man Menschen im Meer ertrinken lässt?

Beide führen als Beispiel die Frage an, was wohl passiert wäre, wenn Europa sich nach 2015 nicht abgeschottet hätte, sondern den Ratschlägen von NGOs und Menschenrechtsorganisationen gefolgt wäre, also offene Grenzen und sichere Fluchtrouten geschaffen hätte. „Wie lange würde es wohl dauern, bis die letzte demokratische Regierung fällt?“, fragt Lau.

Wer so argumentiert, hat es aufgegeben, Menschen überzeugen und Mehrheiten schaffen zu wollen. Es ist ja schließlich kein Naturgesetz, dass immer mehr Menschen in den westlichen Industrieländern Migration als größtes Problem ihrer Zeit empfinden. Es ist ein von völkischen Demagogen erzeugter Effekt, den manche etablierte Politiker ausnutzen, um vom eigenen sozialpolitischen Versagen abzulenken.

Das Empfinden dieser Menschen ist doch aber real, könnte man einwenden, also muss man darauf reagieren. Allerdings: Zurückweichen, um den Gegner aufzuhalten, das funk­tio­niert nicht. Wer das fordert, betreibt Selbstaufgabe.

Rechte der Geflüchteten opfern

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Beeindruckt von den rechten Wahlerfolgen und gesteuerten Kommentarlawinen im Netz, wird postuliert, es sei schlicht nicht möglich, alle Menschenrechte zu verteidigen, weil das der Mehrheit nicht vermittelbar sei. Deshalb müsse man einige Rechte – und zwar die der Geflüchteten – eben opfern, um den Großteil – also die eigenen – zu schützen.

Denn, so erklärt es Dalhuisen: „Niemand sollte annehmen, internationale Menschenrechtskonventionen seien unabänderlich. Sie sind veränderbar und werden verändert werden, wenn eine Mehrheit das will.“

Das gilt aber nur dann, wenn diejenigen, die das Konzept der Menschenrechte verstehen, gar nicht mehr den Versuch der Verteidigung und Erklärung unternehmen, sondern dem Stammtisch hinterherlaufen. Auf die Seenotrettung übertragen: Glaubt wirklich irgendjemand, dass die neue völkische Rechte ihre rassistische Offensive aufgibt, wenn Europa die Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt?

Glaubt jemand, dass es der verbliebenen demokratischen Mehrheit in Deutschland und Europa leichter fällt, den gesellschaftlichen Konsens gegen rechts zu verteidigen, wenn die eigenen Regierungen die elementarsten Selbstverständlichkeiten über den Haufen werfen? Wenn Demokratie und Rechtsstaat das tun, gewinnt die Rechte kampflos.

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Bernd Pickert
Auslandsredakteur
Jahrgang 1965, seit 1994 in der taz-Auslandsredaktion. Spezialgebiete USA, Lateinamerika, Menschenrechte. 2000 bis 2012 Mitglied im Vorstand der taz-Genossenschaft, seit Juli 2023 im Moderationsteam des taz-Podcasts Bundestalk. Bluesky: @berndpickert.bsky.social In seiner Freizeit aktiv bei www.geschichte-hat-zukunft.org
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14 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Danke für diesen Artikel. Wer die Menschenrechte aufgibt, gibt das Menschsein auf. Wir sind mit allem verbunden. Wenn wir uns davon abwenden, wenden wir uns von uns selbst ab.

  • Appeasement-Politik war schon immer ein enorm erfolgreiches Konzept gegenüber Rassist*innen und anderen Menschenfeinden.

  • .... wie jetzt? und wenn demokratie und rechtsstaat nicht "die elementarsten selbstverständlichkeiten" über den haufen werfen, dann "gewinnt die rechte" wenigstens nicht kampflos?



    das ist mir zu defätistisch .... ein bisschen mehr positiver mut

  • Es ist ein Fehler dieses Thema auf eine Menschenrechtsfrage zu reduzieren. Daran das immer mehr Bürger etwas gegen Menschenrechte haben glaube ich nicht. Einhaltung von Menschenrechten ist nicht die Trennlinie anhand der die Fronten hier verlaufen. Den Eindruck möchte man gerne erwecken, um mit erhobenem Zeigefinger auf die Masse der Bevölkerung herabblicken zu können aber diese Analyse ist unehrlich und zweckdienlich und sie ist letztlich auch demokratiefeindlich.

    Entsprechend verdächtig finde ich den Widerstand gegen Lösungen die den Seeweg erübrigen würde, wie die Bearbeitung von Asylanträgen vor Ort oder in der Nähe des Herkunftslandes. Man soll sich besser nicht einbilden das die Menschen so doof sind nicht zu erkennen das viele Linke hier unter dem Schleier des Aslyrechts die Türe offen halten wollen für Wirtschaftsflüchtlinge, deren einzige Aussicht auf Anerkennung im Identitätsbetrug und der Angabe eines falschen Alters besteht.



    Diese Manifestierung von “Empatie” richtet mittelfristig mehr Schaden an als Nutzen. Denn sie macht den Begriff des Asyls zurecht als Brechtsange für eine Welt ohne Grenzen verdächtig. Und damit sind wir am Knackpunkt angeleangt: Wer das Asylrecht für andere politische Ziele ausschlachtet der schadet ihm in der tat! Nicht alles was gut gemeint ist hat auch positive Auswirkungen. Der Schaden der bereits angerichtet wurde ist immens und die Schuld ist in den Reihen der Politiker und Aktivisten (die oftmals auch Journalisten sind) zu suchen, die versuchten die Grenzen zwischen Asyl und weitreichenderer Zuwanderung zu verwischen oder schönzureden.

    • 7G
      74450 (Profil gelöscht)
      @Januß:

      "Entsprechend verdächtig finde ich den Widerstand gegen Lösungen die den Seeweg erübrigen würde, wie die Bearbeitung von Asylanträgen vor Ort oder in der Nähe des Herkunftslandes. Man soll sich besser nicht einbilden das die Menschen so doof sind nicht zu erkennen das viele Linke hier unter dem Schleier des Aslyrechts die Türe offen halten wollen für Wirtschaftsflüchtlinge, deren einzige Aussicht auf Anerkennung im Identitätsbetrug und der Angabe eines falschen Alters besteht."

      Sehe ich nicht so. Welche*r "Linke" hätte denn was dagegen, wenn in deutschen Botschaften Asylanträge gestellt werden könnten?

      Abzulehnen sind Lager in Nordafrika! Aus zwei Gründen: (1) in diesen Staaten werden heute schon reihenweise Menschenrechte missachtet; (2) die Lager verstoßen selbst in Europa gegen menschenwürdige Bedingungen. Die werden in Nordarfika nicht besser gestaltet werden können.

      • @74450 (Profil gelöscht):

        "Sehe ich nicht so. Welche*r "Linke" hätte denn was dagegen, wenn in deutschen Botschaften Asylanträge gestellt werden könnten?"

        Den Kommentaren hier nach zu schließen einige und ähnlich sehen meine Erfahrungen im direkten Kontakt aus. Aus Sicht eines Asylbewerbers hat das ganze eigentlich nur Vorteile, es sei denn man hat keinen berechtigten Asylgrund.

        Klar kann man keine Lager aufbauen, wo die Menschen den Zeitraum bis zur Bearbeitung nicht menschenwürdig überstehen können. Es kann dann ja gerne ein anderer Ort sein, der sicherer zu erreichen ist als über den Seeweg.

      • @74450 (Profil gelöscht):

        Korrekt. Stimmt alles.

        Aber das Tor des Janus-Tempel!



        Bei Krieg geschlossen - bei Friede offen!



        Stand während der ganzen Römerzeit -



        Nur wenige Tage auf! Gell.



        &



        “Das Tor geschlossen“ Verpflichtet halt!



        Na - Si’cher dat. Da mähtste nix.



        Für uns @Janus - Normal*!*

        • @Lowandorder:

          Die Tore des Janus-Temepels wurden bei Krieg geöffnet und bei Friede geschlossen. Sie waren recht selten geschlossen...

    • @Januß:

      Gut gesagt!

  • Wenn es irgendetwas gibt, was kompromisslos verteidigt werden muss, dann sind das Menschenrechte!



    Deren schleichende (und ja, Lowandorder, im Augenblick galoppierende ) Aushöhlung ist unerträglich, ein stetiges Opfern zivilisatorischer Errungenschaften und eine stetige Verrohung der Gesellschaften.

  • 7G
    74450 (Profil gelöscht)

    Wer Menschenrechte relativiert, hat Menschenrechte nicht verstanden!

    • 8G
      83492 (Profil gelöscht)
      @74450 (Profil gelöscht):

      So ganz absolut sind die Menschenrechte auch nach deutschem Recht nicht. Es sind da wohl fürchterlich komplexe Güterabwägungen möglich, die nur durch Volljuristen richtig durchgeführt werden können. Hier z.B:

      "Gesetz über den unmittelbaren Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt durch Vollzugsbeamte des Bundes (UZwG)



      § 3 Einschränkung von Grundrechten



      Soweit rechtmäßig unmittelbarer Zwang bei Ausübung öffentlicher Gewalt angewendet wird, werden die in Artikel 2 Abs. 2 Satz 1 und 2, Artikel 13 Abs. 1 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland geschützten Grundrechte auf Leben, körperliche Unversehrtheit, Freiheit der Person und Unverletzlichkeit der Wohnung eingeschränkt."

      www.gesetze-im-int...50961BJNG000100315

  • Ja wie? „Schleichend“*¿*

    Galoppierend seit - spätestens 1993!



    “Asyl zu Torso&Trümmern!“

    unterm——



    kurz - Die Wende - The Goal!



    Entsolidarisierung der letzten Reste!



    Asyl - Cordon sanitaire Frontex - Bankendergulierung/Agenda 2010 - 'Wir sind wieder wer' - Hartz IV -



    Grexit - Alles Steigbügelhalter für



    JETZT!



    “Das Verhalten der Anrainerstaaten!



    In der Flüchtlingsfrage! Ist die Quittung für Grexit!“ o.s.ä. -



    Friedrich Küppersbusch



    &



    “Da konnte doch’n Blinder mit dem Krückstock 'an fühlen!“ Newahr.

    So geht das

  • Tatsächlich zeigt sich ja erst, welchen Charakter ein Mensch oder auch eine Gesellschaft hat, wenn nicht mehr strahlender Sonnenschein herrscht, wenn wir nicht von Wachstumsrekord zu Wachstumsrekord getrieben werden, wenn es teuer wird und physisch und psychisch anstrengend für unsere Ideale einzutreten. Da erst fängt es überhaupt an, überzeugend zu sein und andere mitzureißen.