Kommentar Zukunft der Türkei: Was kommt nach Erdoğan?
Die türkische Opposition hat Grund zur Hoffnung, aber sie braucht jetzt eine starke Vision. Eine gewonnene Kommunalwahl wird nicht reichen.
I st das der Anfang vom Ende? Viele internationale Zeitungen blickten Anfang der Woche begeistert auf Istanbul. Dort war am Sonntag in der von der Regierung forcierten Wahlwiederholung der Oppositionskandidat Ekrem İmamoğlu erneut zum Oberbürgermeister gewählt worden.
Die Bevölkerung hatte trotz aller Repressionen die AKP abgewählt, die seit 25 Jahren in der Metropole regierte. İmamoğlu gewann sogar in Bezirken, die traditionell an die AKP gehen. Das Muster, wonach bei Wahlen ohnehin die AKP gewinnt, war durchbrochen. Von einem „historischen Sieg“ war zu lesen, von einem Hoffnungsträger, der es mit Erdoğan aufnehmen könne, vom Ende der Ära Erdoğan und der Rückkehr der Demokratie gar.
Tatsächlich ist es İmamoğlu gelungen, die gespaltene Opposition gegen die Regierung zu vereinen. Dass die Bürger*innen die Folgen der Wirtschaftskrise und die autoritäre Politik satthaben, hatten sie bereits bei der Kommunalwahl am 31. März gezeigt. Als die Regierung dann noch die Entscheidung von Millionen von Istanbuler Wähler*innen für nichtig erklären ließ, reichte es selbst vielen Regierungsanhänger*innen mit der Ungerechtigkeit.
Doch so schwierig es ist, vorauszusagen, auf welche Entwicklungen die Türkei nun zusteuert; eines ist sicher: Wenn sich in einem zutiefst polarisierten Land wie der Türkei die Hoffnungen auf eine oppositionelle Projektionsfläche konzentrieren, ist es unausweichlich, dass dieser Hoffnungsträger Erwartungen enttäuschen wird – insbesondere wenn er mit seinem Programm so unterschiedliche Lager wie kurdisch-linke HDP-Anhänger*innen, rechtsextreme MHP-Wähler*innen und enttäuschte AKP-Anhänger*innen erreicht hat.
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İmamoğlu wird sich in der Realpolitik gegen eine Mehrheit der AKP-Koalition im Istanbuler Stadtparlament behaupten müssen, die ihn, davon ist auszugehen, blockieren wird, wo es nur geht.
Mit Istanbul, Ankara und Izmir sind nun die drei größten Metropolen des Landes in der Hand der Opposition. Doch selbst wenn sich İmamoğlu in der Gemeindepolitik bewährt, wird ein seit vergangenem Jahr äußerst zentralisiertes Präsidialsystem nicht mit einer gewonnenen Kommunalwahl enden. Die nächsten Parlamentswahlen finden im Jahr 2023 statt – wenn nicht eine durch Abspaltung des liberalen Flügels der AKP neu gegründete konservative Partei oder eine Verschärfung der Wirtschaftskrise vorgezogene Neuwahlen erzwingt.
Ende der autoritären Regierung
Auch hängt eine Demokratie nicht allein von Wahlen ab, sondern sie muss mit einer unabhängigen Justiz und Presse- sowie Meinungsfreiheit einhergehen. Das Urteil des türkischen Verfassungsgerichts, das die Inhaftierung des Welt-Korrespondenten Deniz Yücel am Freitagmorgen als rechtswidrig einstufte, ist zwar so überraschend wie erfreulich. Doch angesichts der mehr als 130 weiterhin in der Türkei inhaftierten Journalist*innen und des Gezi-Prozesses, in dem seit Montag 16 bekannte Vertreter*innen der Zivilgesellschaft wegen substanzloser Vorwürfe vor Gericht stehen, kann von einer unabhängigen Justiz keine Rede sein.
In einem politischen System, in dem wesentliche Kontrollmechanismen ausgehoben sind, geht es nicht nur um das Ende der autoritären Regierung, sondern auch darum, was danach kommt. Die Opposition braucht eine starke Vision für dieses Szenario. Bis dahin ist es ein weiter Weg.
Dennoch: Die Wahl am vergangenen Sonntag hat etwas Entscheidendes in Bewegung gesetzt, denn sie hat gezeigt, dass die AKP jedenfalls keine Vision hat. Während Erdoğan bei den Wahlen zuvor die Agenda vorgegeben hatte, auf die die Opposition reagierte, zwang nun İmamoğlu ihn dazu, auf seine Politik der Versöhnung zu reagieren.
Mit dem Wahlsieg hat die Opposition Handlungsspielraum gewonnen. Das bedeutet noch nicht das Ende der AKP-Regierung. Aber den Beginn einer Übergangsphase, in der die Vorbereitungen auf die Zeit nach Erdoğan beginnen können.
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