Kommentar Terror und Flüchtlinge: Wende ohne Ende
Eine verschärfte Flüchtlingspolitik hat den Anschlag in Berlin nicht verhindert. Wer nun noch mehr Härte fordert, bestätigt das Kalkül des IS.
D er Verdacht, dass es sich bei dem Sattelschlepper-Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt um ein geplantes Attentat im Sinne des IS gehandelt hat, scheint sich zu bestätigen. Doch Rechtspopulisten wie die AfD wussten von Anfang an, noch ohne die Details abzuwarten, wen sie eigentlich für den Anschlag verantwortlich machen wollen: Angela Merkel und ihre angeblich zu großzügige Flüchtlingspolitik des letzten Jahres.
Auch CSU-Chef Horst Seehofer schlug sofort in die gleiche Kerbe, er forderte vollmundig eine Wende in der Sicherheits- und Flüchtlingspolitik. Nur: diese Wende hat es längst gegeben. Die traurige Wahrheit ist, dass all die Verschärfungen des letzten Jahres den Anschlag nicht verhindert haben. Und im konkreten Fall stellt sich vielmehr die Frage, wie die Behörden den geduldeten Tunesier Anis A., den sie bereits als „Gefährder“ mit IS-Bezug eingestuft hatten, so aus den Augen verlieren konnten.
Es ist verführerisch, jetzt nach angeblichen Lücken im Asylrecht zu suchen, die einem Attentäter wie Anis A. in die Hände gespielt haben könnten. Warum konnte er nicht schneller abgeschoben werden, bevor er den Anschlag beging, wie konnte er untertauchen? Die Gefahr dabei ist, durch übereilte Forderungen jetzt alle Asylbewerber für diese Tat in Sippenhaft zu nehmen. Dabei haben die Anschläge er Vergangenheit gezeigt, dass der IS für Attentate in Europa keineswegs auf Flüchtlinge angewiesen ist. Der IS setzt aber gerne auf solche Täter, weil er die westlichen Gesellschaften verunsichern will, und weil ihm die deutsche „Willkommenskultur“ des vergangenen Jahres ohnehin ein Dorn im Auge war.
Denn es ist erklärtes Ziel des IS, die Polarisierung zwischen Muslimen und dem Westen zu verschärfen und „die Grauzone zu eliminieren“, wie er es ausdrückt. Das ist auch eine Erklärung dafür, warum der mutmaßliche Täter seinen Ausweis am Tatort hinterlassen hat: als ein Bekenntnis zur Tat. Denn je mehr Misstrauen Flüchtlingen und Muslimen in westlichen Gesellschaften entgegengebracht wird, so das Kalkül des IS, umso mehr kann er hoffen, dass sich einzelne Flüchtlinge und Muslime radikalisieren und für seine Zwecke einspannen lassen.
Insofern betreiben die AfD und Horst Seehofer das Geschäft des IS, wenn sie dem Generalverdacht gegen Muslime und Flüchtlinge das Wort reden. Liberale und Linke müssen sich allerdings auch eingestehen, dass es angesichts der Flüchtlingsbewegung des letzten Jahre nicht immer leicht ist, humanitäre und sicherheitspolitische Erwägungen in Einklang zu bringen. Das geht nur mit einer internationalen Zusammenarbeit, die auch den Interessen etwa der Herkunftsländer Rechnung trägt. Denn warum sollen diese potentielle Terroristen zurück nehmen, die sich erst in Europa radikalisiert haben?
Humanität und Sicherheit müssen aber auch kein Gegensatz sein, wie CSU und AfD suggerieren: Gerade eine geordnete Aufnahme von Flüchtlingen, etwa über Kontingente aus der Türkei oder Jordanien, würde eine ausgiebige Sicherheitsüberprüfung erlauben und dazu beitragen, wirklich Bedürftigen zu helfen.
Lesen Sie auch: Daniél Kretschmar und Jan Feddersen zum Sinn und Unsinn von Überwachung, Bettina Gaus über Gelassenheit als einzig wirksame Gegenwehr, Grünen-Politiker Konstantin von Notz im Interview über die Instrumentalisierung des Anschlags
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen