Kommentar Strategie für Ostdeutschland: Fünf Minuten vor der Angst
CDU und SPD versprechen eine Entwicklungspolitik für den Osten. Die kommt etwa 30 Jahre zu spät. Aufgeben ist dennoch die schlechteste Option.
D ie „Zeit für eine Politik nach Himmelsrichtungen“ sei „abgelaufen“, schreibt die CDU in ihrem Strategiepapier für Ostdeutschland. Das ist insofern lustig, als die CDU und ihre Koalitionspartnerin SPD nun exakt dies versprechen: Entwicklungspolitik für den Osten. Beide haben Konzepte vorgelegt, wie sie zwischen Suhl und Sassnitz strukturelle Nachteile ausgleichen und gekränkte Gefühle heilen wollen. Von Netzausbau über die Grundrente bis zu einem deutsch-deutschen Begegnungszentrum ist alles dabei.
Man kann das doof finden und angstgetrieben. Schließlich zeigt ja schon ein kurzer Blick auf die Umfragen zu den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, was das Problem der beiden Parteien ist: Die AfD ist vor allem der CDU dicht auf den Fersen. Aber nichts zu tun und ganze Landstriche den RechtspopulistInnen zu überlassen ist auch keine Option. Aufgeben ist die denkbar schlechteste Option.
Berechtigt ist jedoch die Frage, warum die Parteien erst jetzt, fünf Minuten vor der Angst, mit strukturellen Maßnahmen um die Ecke kommen. Hinter diesem wiedervereinigten Deutschland liegen drei Jahrzehnte, in denen man offenbar meinte, es reiche doch, den Ostdeutschen zu sagen, wie froh sie sein dürften, aus der Diktatur befreit worden zu sein. Dass sie selbst es waren, die sich befreit hatten, wurde schon mal übersehen. Ebenso, dass die ganze schöne Freiheit nicht geschätzt wird, wenn der Staat signalisiert, dass er selber nicht an eine Zukunft glaubt und sich schon mal vorsorglich zurückzieht.
Ja, es gibt sie, die durchsanierten Städtchen und tipptopp ausgebauten Straßen. Aber es sind Straßen, auf denen kaum jemand fährt. Wohin auch? Eher nicht zu Produktionsstandorten, Hochschulen, mittelständischen Unternehmen und gut ausgestatteten Kommunen. Klar ist, es reicht ganz offensichtlich nicht, Marktwirtschaft als Konzept zu verstehen, das auf die Kraft des Einzelnen setzt, wenn dieser Einzelne mit vierzig Jahren Verspätung Mitglied der Familie wird. Gut möglich, dass es jetzt tatsächlich zu spät ist.
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