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Kommentar Polizeieinsatz in HamburgAn der Katastrophe vorbeigeschrammt

Kommentar von Martin Reeh

Haben Senat und Polizeiführung bei ihrem Vorgehen in Hamburg Tote in Kauf genommen? Es ist Zeit für einen Untersuchungsausschuss.

Schiefgegangene Polizeitaktik? Eine Einheit zieht sich im Schanzenviertel zurück Foto: dpa

I n Hamburg ist es spätestens seit Donnerstag Zeit für einen Untersuchungsausschuss zum Polizeieinsatz beim G20-Gipfel. Ein Interview, das der SEK-Kommandoführer Sven Mewes gegeben hat, muss alle Alarmglocken läuten lassen: Mewes war bei der Einheit, die ein eingerüstetes Haus räumen ließ. Man habe damit rechnen müssen, „auf mit Schusswaffen bewaffnete Straftäter zu treffen“, sagt er. Das SEK sei deshalb „extrem robust auf Eigensicherung“ bedacht gewesen, der „Schusswaffengebrauch freigegeben“.

Haben Hamburger Senat und die Polizeiführung bei ihrem Vorgehen in der Schanze bewusst – und unnötig – Tote in Kauf genommen? Ist Hamburg knapp an einer Katastrophe wie in Genua vorbeigeschrammt? Das Haus, auf dessen Dach Demonstranten standen und die Polizei bewarfen, steht im Mittelpunkt der Rechtfertigungen der Polizei, warum sie am Freitag so spät eingegriffen hat. Obwohl sie vom Hausbesitzer den Schlüssel erhalten hatte, blieb es ungesichert. Auch in wichtigen Straßenzügen des Viertels befand sich vorab keine Polizei.

Nachdem die Polizei die Situation erst unterschätzte, rückte dann ein mit Sturmgewehren bewaffnetes SEK vor. Ähnliche Situationen, etwa bei der Räumung besetzter Häuser in Berlin 1990, wurden früher von gewöhnlichen Polizeieinheiten geklärt. Bisher gibt es keinen Beleg dafür, dass in Hamburg mit einem Schusswaffengebrauch von Demonstrantenseite zu rechnen war.

Seit Tagen ergehen sich führende SPD­ler in einer Bürgerkriegsrhetorik, die jedes Maß verloren hat. Kanzlerkandidat Schulz sprach von „Mordbrennern“, Sigmar Gabriel von „Terroristen“ in der Schanze. Damit sollen der missratene Einsatz der Polizei legitimiert und die eigenen Wahlchancen im September erhalten werden. Gegen „Mordbrenner“ und „Terroristen“ aber sind alle Mittel erlaubt, auch Schusswaffen. Wer wie Schulz und Gabriel die Grenzen zwischen gewalttätigen Demonstranten und Terroristen verwischt, nimmt Tote in Kauf. Spätestens beim nächsten Einsatz.

Vor etwas mehr als 50 Jahren starb Benno Ohnesorg bei einer Demonstration in Berlin. Seinem Tod voraus ging eine staatliche Feinderklärung an die außerparlamentarische Linke. Schulz und Gabriel bewegen sich in einer gefährlichen Tradition. Sie sollten ebenso abrüsten wie die Hamburger Steinewerfer.

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Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.
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17 Kommentare

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  • 6G
    60440 (Profil gelöscht)

    Mal hinter die Kulissen geschaut:

     

    Steilvorlage für Merkel, die es sich sogar erlauben kann, Scholz zu verteidigen. Demütigender gehts nicht.

     

    Was, hätte Olli "The Scholli" Rückgrat und so iregndetwas wie Selbstachtung gehabt und wäre zurückgetreten ? (Was selbstverständlich ist, nach dem von ihm zu verantwortenden Desaster).

    Alle hätten auf die andere Verantwortliche gezeigt und Merkel wäre schwer in die Bredouille geraten.

    Nun muss die SPD zu schwerem Wortkaliber greifen, um ihrem Unglückswurm beizustehen, wobei sie natürlich genau null punkten wird. Schon weil der Wähler ihr weniger Kompetenz auf dem Felde der inneren Sicherheit zubilligt und er, zumindest was Hamburg angeht, ja auch Recht hat.

    Mit dem martialischen Wortgeklingel vergrätzt man seine verbliebenen Stammwähler und Sympathisanten, zumindest die, die noch ein Gefühl für Maß und Mitte haben und/oder nachdenken und mitfühlen können.

    Eine echte lose-lose-Situation.

    Es kann ja noch vierl passieren bis zur Bundestagswahl, aber ! Die Wahl dürfte gelaufen sein.

    Würde man Merkel für eine Strategin halten: Chapeau ! Mit ihrem Anruf bei Olli vor zwei (?) Jahren hat sie die Weichen für ihre Wiederwahl erfolgreich gestellt. Und Olli, dem ja größere Ambitionen nachgesagt wurden ? Hat sich seiner Partei alles vermasselt - aus purer Eitelkeit, Dummheit und Selbstüberschätzung. Und er vermasselt weiter. Irre.

    • @60440 (Profil gelöscht):

      Ein Rücktritt von Scholz wäre tatsächlich für Merkel gefährlich ... aber passiert schon nicht. Der Scholz will gerne noch ein bißchen regieren ... in HH. Berlin ist sowieso verloren ...

  • An die vielen Kommentaren, hier und anderswo nach den G20 Krawallen, wird eines sehr deutlich. Trotz oder gerade wegen unserer deutschen Geschichte, gibt es für mich immer noch so viel "Obrigkeitsdenken" nach Oben wird gebuckelt, nach Unten getreten. Deshalb haben es auch die Verantwortlichen so leicht, Menschen in diesem Land gegeneinander aufzuwiegeln.

  • Unfassbare Täter-Opfer Umkehr. Widerlich.

    • @lulzburger:

      Wen meinen Sie? die Reihe von Grundrechtverletzungen der staatlichen Behörden?

       

      Wie es im Wald rein ruft schallt es zurück.

       

      Wir haben es doch schon oft miterleben müssen, ob Genua 2001 oder Heiligendamm 2007, dass bezahlte Provokateure mit eingesetzt wurden, trotzdem scheinen viele Kritiker nur die "mutmaßlichen Gewalttäter" als alleinige Schuldige auszumachen.

       

      Ist Deutschland ein Rechtsstaat oder nicht? Wenn Deutschland einer ist, sollten Beamte dies auch diesen vertreten, denn darauf haben sie einen Eid geleistet?

       

      Wenn nicht, dann ging und geht immer nur um Interessen der Herrschenden, nie aber um Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, oder Freiheit dann und nur dann macht auch die zum Teil hohen Anzahl von Grundrechtsverletzungen einen Sinn.

  • Untersuchungsausschuss muss schon sein. Mal sehen, ob er in so "heißen" Zeiten kommt.

  • 3G
    39756 (Profil gelöscht)

    Merkt eigentlich einer das die Polizisten auch Mitbúrger sind und das wir gegeneinander gehetzt werden. Es scheint auch, das die Zahl derer, die sich danebenbenommen haben sowohl bei den Demonstranten als auch bei der Polizei unter 0, 2 % liegen. Eigentlich gar nicht schlecht. Idioten gibts halt immer und wenn es nur so wenige sind ist das leider "der normale Prozentsatz von Gewaltbereiten in einem demokratischen Land mit funktionierendem Rechtsstaat". Ist zwar wichtig, diese Dinge im Gespräch zu verarbeiten, aber für mich ist die Polizei NICHT der Gegner. Es sind unsere Mitbürger und Ihr Job ist auch sehr schwer. Sieht man schon daran, das die Komandanten verdeckt arbeitende junge Polizeibeamte mit Schusswaffe in eine Demo schicken. Ham ja auch geschossen und auf die Leute angelegt. Ein Glück, das der Mann dann doch noch die Fassung bewahrt hat und keiner ums Leben kam. Genau wie die auf dem Dach, die haben auch keinen einen Stein auf den Kopf geworfen. Ah Auf einem Dach ist es sowieso schwierig, Pflastersteine zum Werfen rauszubrechen. Da braucht man sehr lange Arme bis runter zur Strasse...

  • Danke Herr Martin Reeh.

    Klare Worte.

    EndeGelände.

     

    (ps was hier @@ so abgelassen wird -

    Peinlich & Gornet erst ignor'irn!)

  • wer schwere Steine von einem Hausdach wirft, nimmt selbstverständlich den Tod der unten stehenden in Kauf, wenn er nicht ein kompletter Dummkopf ist und die Folgen nicht erkennt. Ein "potentieller" Mörder ist er damit auf jeden Fall und natürlich darf man ihn daher auch mit den erforderlichen Mitteln an seinem Tun hindern.

    • 8G
      82236 (Profil gelöscht)
      @Dr. McSchreck:

      Die Verhältnismässigkeit muss trotzdem gewahrt bleiben und das hat die deutsche Polizei augenscheinlich vergessen. In Frankreichs Banlieus gehören auf den Dächern postierte Steinewerfer zum täglichen Brot der Polizisten, wenn die da jedesmal mit Sturmgewehren ballern würden, gäbe es schon lange einen Bürgerkrieg. Bei Grosseintsetzen gehören Hubschrauber dazu, Aufklärungsarbeit zu leisten und die Beamten zu orientieren. Es ist die mangelnde Erfahrung deutscher Polizisten, die solche unverhältnismässigen Mittel hervorrufen. Sie sollten mal ein paar Lehrgänge bei ihren französischen Kollegen machen, um überlegter und kaltblütiger zu handeln Bei der Anwendung der Polizeitaktik von Hamburg hätte es bei den Riots von 2005 in Frankreich bestimmt hunderte von Toten gegeben.

    • @Dr. McSchreck:

      Es wurde ja probiert, den gewalttätern das handwerk zu legen, nur leider war die polizei stärker. und ich red von so sachen wie schusswafengebrauch, massenpanik auslösen, menschen über mauern werfen, .....

  • Die Frage nach den Konsequenzen des Polizeieinsatzes sind wichtig. Natürlich will die Polizei keine Toten, aber beim freigegebenen Gebrauch von Schusswaffen ist alles denkbar.

     

    Zur Aufarbeitung gehört die selbe Frage in Richtung der Demo-Organisatoren/Teilnehmer gestellt. Hätte man von dieser Seite den Tod eines Polizisten in Kauf genommen? Diese Seite der Aufarbeitung kommt immer noch - selbst hier in der TAZ - viel zu kurz. Wie weit ist z.B. die IL bereit zu gehen?

    • @TazTiz:

      die frage ist leicht zu ebantworten und steht auf der IL-homepage: keine gewalt, keine eskalation, aber regelübertretung, also klassischer ziviler ungehorsam. zum nachlesen:

      "Wir setzen auf den rebellischen Verstand und die Vernunft des Herzens. Wir kündigen an: Wir werden die Regeln überschreiten und die Rote Zone dicht machen. Nicht alles, was wir tun ist rechtskonform, aber alles ist offen und sichtbar für alle, die mitmachen werden. Natürlich gibt es ein Risiko. Widerständiger Ungehorsam ist kein Deckchensticken. Wenn die Polizei unkalkulierbar und gewalttätig handeln sollte, schreckt uns das nicht und muss niemanden verschrecken, denn wir sind Abertausende und halten zusammen. Wir handeln in der Tradition von Block G8 aus Heiligendamm, Dresden Nazifrei, Castor schottern, Ende Gelände oder Blockupy. Ereignisse, in denen immer auch die Zuversicht, Kraft und Hoffnung der vielen spürbar wurde. Wir gehen Vereinbarungen ein, was wir zusammen an den verschiedenen Orten machen, damit alle mitmachen können. Das ist unsere Politik der Freundschaft in den Tagen der großen Zusammenkunft." http://www.interventionistische-linke.org/beitrag/BlockG20-colour-the-red-zone

      • @rauchamendedernacht:

        "Widerständiger Ungehorsam ist kein Deckchensticken."

         

        Klingt wie, wenn FDP-Wähler Steuerhinterziehung legitimieren wollen ...

        • 6G
          60440 (Profil gelöscht)
          @TazTiz:

          Da isser wieder der brave Michel. Wie 1848. Kennen Sie den mit der Revolution und der Bahnsteigkarte ?

          • @60440 (Profil gelöscht):

            "Beiß die Hand, die Dich fütttert!"

             

            Mehr ist das aktuelle Gerede von der Revolution doch nicht ... mit 1848 oder 1918 ist das nicht vergleichbar. Es fehlt die "revolutionäre Situation" ... aber das wissen Sie sicherlich selbst.

    • @TazTiz:

      Wer Steine, Glasflaschen, Stahlkugeln, gefährliche Böller auf Menschen wirft, nimmt grundsätzlich den Tod in Kauf.