Kommentar Mindestlohn: Nur dilettantisch
Der Kabinettsentwurf zu den neuen Ausnahmen beim Mindestlohn verrät: Er wird immer löchriger. Jetzt sind auch Langzeitarbeitslose betroffen.
U nion und Wirtschaftsverbände haben ihr Ziel erreicht: Der Mindestlohn ist doch nur noch Flickwerk. Nun sollen auch Langzeitarbeitslose kein Recht auf 8,50 Euro Bezahlung pro Stunde haben. Das ist arbeitsmarktpolitischer Dilettantismus.
Denn es schafft den Anreiz, einen Arbeitslosen nur noch für sechs Monate anzustellen: hat er nach dieser Zeit Anspruch auf 8,50 Euro, kann er einfach vor die Tür gesetzt werden, um den nächsten Arbeitslosen anzuheuern. Das ist keine Schwarzmalerei. Dort, wo Schlupflöcher existieren, werden sie genutzt, das zeigen alle Erfahrungen. Außerdem kann die Regelung dazu führen, Zeiten der Arbeitslosigkeit künstlich zu verlängern: Denn ein künftiger Chef weiß nun, dass ein neuer Mitarbeiter nach einem Jahr zum Dumpinglohn zu haben ist. Damit aber zementiert die große Koalition just die prekäre Situation der Arbeitslosen, die sie zu bekämpfen vorgibt.
Das Gegenargument, es gehe aber doch um schwer vermittelbare Arbeitslose, die für 8,50 Euro nicht eingestellt würden, ist fadenscheinig. Als langzeitarbeitslos gilt, wer länger als ein Jahr auf Stellensuche ist. Darunter sind auch Menschen, die gut ausgebildet und qualifiziert sind und bisher bei der Stellensuche Pech hatten. Sie und alle anderen Langzeitarbeitslosen werden mit der neuen Ausnahme beim Mindestlohn weiter in der Abwertungsspirale gehalten, die Rot-Grün mit den Hartz-Reformen in Gang gesetzt hat.
Das Bundeskabinett hat dem nachjustierten Mindestlohnentwurf von Arbeitsministerin Nahles (SPD) zugestimmt. Von der gesetzlichen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro sollen Langzeitarbeitslose bei Annahme eines Jobs in den ersten sechs Monaten ausgeklammert sein. Dies soll auch für Jugendliche unter 18 ohne Ausbildung sowie für Praktikanten in Berufsvorbereitung gelten. Geplant ist, dass der gesetzliche Mindestlohn zum 1. Januar 2015 kommt. (dpa)
Der neue Kompromiss ist aber noch aus einem weiteren Grund ein Offenbarungseid der sozialdemokratischen Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. Sie hat immer wieder stolz darauf hingewiesen, sich beim Mindestlohngesetz auf keine Ausnahmen, schon gar nicht für einzelne Berufszweige oder Branchen einzulassen. Aber auch diese sind nun durch die Hintertür teilweise möglich: Denn in Branchen wie dem Hotel- und Gaststättengewerbe oder in der Landwirtschaft werden Saisonkräfte häufig nur für ein paar Monate in der Urlaubs- oder Erntezeit beschäftigt.
Künftig hat man auch hier ein billiges Reservoir an langzeitarbeitslosen Niedriglöhnern zur Verfügung. Denn diese sind der großen Koalition nicht einmal 8,50 Euro wert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja