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Kommentar Labour-ParteitagFür Opportunismus nicht zu haben

Ralf Sotscheck
Kommentar von Ralf Sotscheck

Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn spricht beim Parteitag vom „Sozialismus“ und hängt auch sonst sein Fähnchen nicht in den Wind. Gut so!

Kämpferisch: Jeremy Corbyn Foto: ap

E s war die beste Rede, die er jemals gehalten hat. Der britische Labour-Chef Jeremy Corbyn hat am Mittwoch auf dem Parteitag in Liverpool selbstbewusst seine Strategie dargelegt, um Labour an die Macht zu bringen. Gestärkt nach seiner kürzlichen Bestätigung im Amt durch die Parteimitglieder, machte er deutlich, dass er beim Thema Einwanderung nicht von seiner Position abrücken werde – auch nicht um des Parteifriedens willen.

Das ist mutig, denn es gibt derzeit nur wenige Politiker in Großbritannien, die keine Einschränkung der Einwanderung fordern. Es seien nicht die Migranten, die die Löhne drücken, sondern ausbeuterische Arbeitgeber, betonte Corbyn. Die meisten Labour-Abgeordneten geben ihm zwar in der Sache recht, doch sie prophezeien eine Wahlniederlage, wenn der Labour-Chef sein Fähnchen nicht nach dem öffentlichen Wind hängt.

Für Opportunismus ist Corbyn aber nicht zu haben. In seiner knapp einstündigen Rede benutzte er fünfmal die Worte „Sozialismus“ oder „Sozialist“, die schon lange nicht mehr auf einem Parteitag gefallen sind, denn sie sind für den rechten Parteiflügel ein rotes Tuch. Um die Wahlen zu gewinnen, muss Corbyn freilich nicht nur seine Anhänger, sondern auch skeptische Labour-Wähler und vor allem genügend Tories von seinem Programm überzeugen, und das ist ein weiter Weg.

Allerdings hat der Mann, den viele als zu radikal und damit nicht mehrheitsfähig einschätzten, schon anderes geschafft: Als Corbyn voriges Jahr seine Kandidatur für die Labour-Führung bekanntgab, erntete er zunächst Gelächter. Doch seitdem hat er Labour zur größten politischen Partei Westeuropas gemacht.

So unwählbar, wie seine Gegner behaupten, ist Labour nicht: Die Bürgermeisterwahlen in London und Bristol wurden schließlich gewonnen.

Das Potenzial für den Beistand sozialer Bewegungen, der Corbyn von der jungen Organisation Momentum zuteilwurde, ist längst nicht ausgeschöpft. Und so unwählbar, wie seine Gegner behaupten, ist Corbyns Labour Party gar nicht: Die Bürgermeisterwahlen in London und Bristol wurden schließlich gewonnen.

Der Labour-Chef hat sich im Namen der Partei für den Irakkrieg entschuldigt, den Tony Blair mit angezettelt hatte. Dafür bekam Corbyn stehende Ovationen, doch eine Handvoll Delegierter verließ aus Protest den Saal. Es würde Labour guttun, wenn sie auch die Partei verließen. Corbyn hat es in seiner Rede deutlich gesagt: Niemand wird sich von der Vision einer gespaltenen Partei überzeugen lassen.

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Ralf Sotscheck
Korrespondent Irland/GB
Geboren 1954 in Berlin. 1976 bis 1977 Aufenthalt in Belfast als Deutschlehrer. 1984 nach 22 Semestern Studium an der Freien Universität Berlin Diplom als Wirtschaftspädagoge ohne Aussicht auf einen Job. Deshalb 1985 Umzug nach Dublin und erste Versuche als Irland-Korrespondent für die taz, zwei Jahre später auch für Großbritannien zuständig. Und dabei ist es bisher geblieben. Verfasser unzähliger Bücher und Reiseführer über Irland, England und Schottland. U.a.: „Irland. Tückische Insel“, „In Schlucken zwei Spechte“ (mit Harry Rowohlt), „Nichts gegen Iren“, „Der gläserne Trinker“, "Türzwerge schlägt man nicht", "Zocken mit Jesus" (alle Edition Tiamat), „Dublin Blues“ (Rotbuch), "Mein Irland" (Mare) etc. www.sotscheck.net
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14 Kommentare

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  • Möglich, dass dem Sozialismus in Britain eine - wievielte?- Chance eingeräumt wird. Ähnlich wie bei Sozialist Hollande und Syriza werden Vorfreude und Erwartung wieder groß sein. Jubel, Heiterkeit. Die Rettung der Welt naht. Und dann? Zumindest ginge "1984" bezogen auf den Standort "endlich" auf.

  • Jeremy Corbyn macht das einzig überhaupt noch Erfolgversprechende - er tritt die Flucht nach vorn an.

  • Leider kenne ich Mr. Corbyn’s Rede nicht, ich wüsste gern, was er unter „Sozialismus“ versteht. Vermutlich kennt er den „Sozialismus“ nur aus dicken Büchern, in denen diese Gesellschaftsordnung sozusagen als „Endstation Sehnsucht“ für die Menschheit angepriesen wird.

     

    Über 16 Mio. DDR-Bürger, darunter auch ich, haben den Sozialismus praktisch kennengelernt und verbinden damit geistige Enge, eingesperrt sein, Mangelwirtschaft, Unterdrückung jeder Opposition und zentral gelenkte Massenmedien, die das Leben im Land schönreden. 1989 brachten die DDR-Bürger selbst dieses System in einer gewaltfreien Revolution zum Einsturz. Darüber hinaus gab es im vorigen Jh. in der Hälfte aller Staaten der Erde Experimente mit Sozialismus/Kommunismus. Geblieben sind nur noch Kuba, China, Vietnam und Nordkorea. Auch Chavez‘ „Sozialismus des 21. Jh.“ geht dem Ende zu, bevor er richtig begann!

     

    Und damit will Mr. Corbyn seine Landsleute beglücken? Vielleicht hat ihm noch niemand verraten, dass der Sozialismus eine große Zukunft HINTER sich hat!

    • @Pfanni:

      Den Begriff "demokratischer Sozialismus" gibt es nun seit fast 100 Jahren. Aber bis zu Ihnen hat sich die Bedeutung immer noch nicht herumgesprochen?

      Und von Willy Brandt, einem anderen Politiker, der sich Sozialist nannte und den demokratischen Sozialismus als Ziel hatte haben Sie vermutlich auch noch nie etwas gehört, nehme ich an?

      Scheint die Bildung in der DDR war ziemlich unter aller Kanone.

      • 6G
        628 (Profil gelöscht)
        @Kaboom:

        Es ist halt dieses klassische "Die DDR war schlecht und deshalb ist das Bestehende alternativlos"-Genöle, das gerne alles von August Bebel bis Erich Mielke undifferenziert in einen Topf wirft. Lohnt sich kaum, drauf einzugehen.

        • @628 (Profil gelöscht):

          Auch wenn die Platte alt und abgedroschen ist, sollte man nicht vielleicht nach dann doch ein "paar" "klitzekleinen" Rückschlägen ein neues Konzept vorlegen?

  • Was sagte Lenin:-))

    .

    "Wir werden das Proletariat geduldig aufklären, dann kommt die Revolution ganz von selbst. UND wir werden führen!"

    .

    Dürfte als Strategie langfristig tragfähiger sein als der "Drang zur Mitte!"

    • @Sikasuu:

      Lenin hat das Proletariat aufgeklärt: erst mit der finanziellen Unterstützung des Deutschen Reiches Waffen gekauft, dann die Menschen aufgeklärt mit NKWD, KGB und Gulag...

  • Wenn die Schurkenwörter wie die Einheit der Partei oder Kampf um die Mitte fallen, müssen stets schrill und laut die Alarmglocken läuten.

    Wenn man den Erfolg von Jeremy Corbyn für Labour so richtig sichtbar machen will, muss man ihn nur mit Sigmar Gabriel oder François Hollande vergleichen.

    Was macht also Jeremy Corbyn soviel anderes als Sigmar Gabriel oder François Hollande, deren Parteien von Jahr zu Jahr weiter an Mitgliedern und Wählern verlieren?

    Antwort: Jeremy Corbyn lügt seine Parteimitglieder und Wähler nicht fortlaufend an und er richtet seine Politik an die Mehrheit seiner Anhänger aus. Er verzichtet auf das Lügen und auf den Verrat nur der Macht wegen.

     

    Mittelfristig wird aber Jeremy Corbyn nicht um herkommen, die neoliberalen Köpfe in der Labor, die ein diametral andere Vorstellungen von Politik haben, als er, nach und nach aus der Labor zu entsorgen, zwar restelos. Erst dann wird Jeremy Corbyn die erforderliche Einheit seiner Partei hergestellt haben um so die Macht zu übernehmen.

     

    Das ist auch das Rezept für die SPD. Solange die Schröderianer die Strippen in der SPD in den Händen halten, wird sich nichts ändern.

  • Die demokratisch-sozialistische Idee hat nach wie vor Anziehungskraft. Und Zukunft. Was fehlte, die letzten Jahrzehnte über, waren Parteien und darin werkende Führungskräfte, die sich nicht nur mit dem Namen euphemistische Schals über perfid neoliberales (in Europa vor allem) bzw. mafiös-korruptes (bei uns in Lateinamerika) Handeln stülpten. Und also hofft sozial(istisch) eingestimmter mensch wieder mit Corbyn.

  • Ich glaube nicht, dass es sich das Establishment in UK gefallen lassen wird, dass Labour sich nach Jahrzehnten wieder zu einer linken Partei entwickelt. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass sowas Schule macht. Die rechten U-Boote in der Partei werden sich da gewiss eine kreative "Lösung" einfallen lassen.

  • Etwas Wasser in den Wein: Die Bürgermeisterwahl in London wurde gewonnen, weil Sadiq Khan explizit auf Corbyns Unterstützung verzichtet hat und sich immer wieder (auch auf dem Parteitag) gegen Corbyns Positionen ausspricht. Die Empfehlung, wem Corbyns Kurs nicht passt soll bitte die Partei verlassen dürfte im Ergebnis auch nicht gerade dazu führen, das ..wie weiter oben geschrieben...skeptische Labour Voter oder gar Blaue die Partei wählen werden. Wenn Theresa May nichts ganz dummes anstellt und ihre Jungs unter Kontrolle hält droht ihr innenpolitisch gar nichts.

  • Corbyn hat Labour zur größten Partei gemacht, weil anderen Parteien die Mitgleider aussterben.

     

    Corbyn hat die beste Rede seiner Karriere gehalten, weil er gewöhnlicherweise einschläfernd ist.

     

    Zu den Leuten, die nach Herrn Sotscheks Meinung die Partei verlassen sollten, gehören vielleicht auch Sadiq Khan und Marvin Rees, die beiden beschworenen Bürgermeister.

     

    Corbyn ist Sanders ohne Charisma. Und wird entsprechende Wahlerfolge erzielen.

     

    Das romantische Wunschdenken alter Genossen ist eine Sache. Die Realität ist, daß Corbyn nur garantieren wird, daß bis mindestens 2022 die Tories regieren.

     

    (Disclosure: ich war von 1995 bis 2003 Labour-Mitglied)

  • In ganz Europa gibt es kein Wahlsystem und eine Gesellschaftsstruktur, die so verknöchert ist wie die GB's. Hätte ich gerne gesagt, aber mit Blick auf Ungarn, Tschechien, Slowakei etc. ist das natürlich Nonsense. Aber es reicht schon aus, dass Thatcher mit weniger als ein Drittel der Wählerstimmen sich so lange an der Macht halten und die Gewerkschaftsmacht samt der zugehörigen Industrie auflösen konnte, um das zu verstehen.

    In der Medienreaktion auf Corbyn wird erst klar, wie sehr gerade deutsche Journalisten Corbyns Positionen verleumden, anstatt sie zumindest - bei eigenem Dissens - korrekt darzustellen.

    So erklärte mehrmals die im Wirtschaftsteil extrem marktorientierte Süddeutsche Corbyns klassische Labourpositionen für linksaußen.

    Das ist derselbe demokratische Sozialist, der als einziger in Europa die Zahl der Parteimitglieder in wenigen Monaten (seit Mai 2016) verdoppeln konnte!