Kommentar Klage gegen Boris Johnson: Der Rechtsstaat verliert
Sollen Politiker jetzt immer gegeneinander klagen, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind? Das wäre eine absurde Politisierung des Rechtsstaats.
B rexit-Gegner dürfen jubeln: Endlich landet die prominenteste mutmaßliche Lüge des Brexit-Wahlkampfs, nämlich die Behauptung von wöchentlichen Zahlungen Großbritanniens an die EU in Höhe von 350 Millionen Pfund, vor Gericht. Aber wer sich über die Zulassung der Klage gegen Boris Johnson als prominentesten Vertreter dieser Wahlkampfparole freut, sollte vorsichtig sein.
Zum einen ist der Vorwurf merkwürdig. Unter Amtsmissbrauch wird gemeinhin verstanden, dass ein Amtsträger seine Kompetenzen überschreitet oder sein Amt zum eigenen Vorteil nutzt. Im englischen Recht wird Amtsmissbrauch so definiert, dass ein Amtsträger sich absichtlich und ohne vernünftige Begründung oder Rechtfertigung in einer Weise verhält, die das Vertrauen der Öffentlichkeit in sein Amt erschüttert. Das ist eine sehr schwammige Definition, aber öffentliche Äußerungen in einem Wahlkampf sind noch nie darunter gefallen. Wahlkämpfer äußern sie sich im Rahmen ihrer Kampagne nicht qua Amt.
Und wenn jede politische Äußerung, die vom Gegner als Unwahrheit zurückgewiesen wird, vor Gericht landet, wird jeder politische Widerstreit unmöglich. Sollen Politiker jetzt andauernd gegeneinander Klage einreichen, wenn sie unterschiedlicher Meinung sind? Es wäre eine völlig absurde Politisierung des Rechtsstaates.
Die jetzt vom Bezirksgericht Westminster zugelassene Klage wird vor allem eine Wirkung haben: in der breiteren britischen Öffentlichkeit die Überzeugung festigen, dass das Establishment alle Hebel in Bewegung setzen will, um zu verhindern, dass mit Boris Johnson ein überzeugter Brexiteer Premierminister wird. Die Bezirksrichterin könnte mit ihrem Verhalten also das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz nachhaltig geschädigt haben. Man könnte sie fast wegen Amtsmissbrauchs verklagen. Und dann? Man muss schon große Lust an der Zerstörung haben, um irgendeinen Aspekt dieser gesamten Geschichte für sinnvoll zu halten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen