Kommentar Journalismus und Fakezitate: Fälschen für Europa
Der Schriftsteller Menasse hat jahrelang Zitate eines EU-Kommissionschefs gefälscht, um Propaganda für ein vereintes Europa zu betreiben.

N un also Robert Menasse. Nur wenige Wochen nach Claas Relotius haben liberale Linke und Medien ihren nächsten Fälschungsfall. Der österreichische Schriftsteller hat über Jahre hinweg Zitate des ersten EWG-Kommissionschefs gefälscht, die Menasses Vision der Vereinigten Staaten von Europa besser legtimierten. Sogar eine Antrittsrede von Hallstein in Auschwitz hat Menasse erfunden.
In beiden Fällen haben die Sicherungsmechanismen versagt. Im Fall Relotius musste sein Kollege Juan Moreno auf eigene Faust recherchieren, weil seine Chefs zunächst Relotius und nicht ihm glaubten. Bei Menasse ist das Versagen noch eklatanter: Der Historiker Heinrich August Winkler begründete schon im Oktober 2017 in einem Spiegel-Essay, warum er die Hallstein-Zitate für falsch hielt. Niemand reagierte. Weder Menasse noch seine zeitweilige Co-Autorin Ulrike Guérot, weder der „Spiegel“ selbst noch andere Medien oder andere Institutionen im Kulturbetrieb.
Menasse hielt weiter Lesungen, schrieb Essays, nahm Ehrungen entgegen, ohne dass er auf die falschen Zitate angesprochen wurde. Weite Teile des linksliberalen Betriebs fühlen sich derzeit im Kulturkampf gegen Rechts – seine Antennen sind darauf gerichtet, rassistische Äußerungen von Provinzverwaltungen aufzuspüren. Fälschungen im eigenen Lager erkennen sie nicht.
Ebenso wie Relotius' hat auch Menasse das Schwarz-Weiß-Denken des Kulturkampfs bedient. Bei Menasse ist es die Position, dass die Nationalstaaten obsolet seien und die Vereinigten Staaten von Europa kommen müssten. Erst das hat den Österreicher in Deutschland richtig bekannt gemacht.
Dabei hat gerade diese sich selbst als pro-europäisch verstehende Position etwas sehr Deutsches: Es ist die Sehnsucht nach absoluten Lösungen statt mühsam Kompromisse auszuhandeln oder sich durchzumogeln. Und es ist zugleich eine Bewältigung der deutschen und österreichischen Geschichte: Weil Deutschland (und Österreich) mit Auschwitz ein einmaliges Verbrechen in der europäischen Geschichte begangen haben, sollen auch alle anderen ihre Nationalstaatlichkeit aufgeben. In Deutschland hat man nur wenig Verständnis dafür, dass Länder, die einmal Opfer der deutschen Geschichte wurden, schon wieder anders denken als man selbst.
Kann man etwas aus dem Fall Menasse lernen? Zumindest soviel: Es tut der liberalen Linken nicht gut, in Schwarz-Weiß-Mustern zu denken. Die fehlende Lust an differenziertem Denken führt auch zum Verlust, offenkundige Fälschungen zu erkennen oder wahrzunehmen. Menasse selbst fühlte sich berufen, Auschwitz für seine politischen Vorstellungen zu instrumentalisieren und Zitate zu erfinden – und dies auch noch als legitimes Mittel zu rechtfertigen. Dabei gewinnt man politisch so nichts: Der FPÖ wird es von jetzt an eine Freude sein, Menasse als Fälscher vorzuführen.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Friedensforscherin
„Wir können nicht so tun, als lebten wir in Frieden“
Prozess gegen Maja T.
Ausgeliefert in Ungarn
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Gedenken an Hanau-Anschlag
SPD, CDU und FDP schikanieren Terror-Betroffene