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Kommentar FlüchtlingspolitikGraf Zahl und die Angstmacher

Gereon Asmuth
Kommentar von Gereon Asmuth

Politik und Medien schüren mit Flüchtlingszahlen Angst. Sie sind überfordert. Nicht von Flüchtlingen, sondern von der Aufgabe, radikal umzudenken.

Politiker schüren mit hohen Flüchtlingszahlen Angst. Die Frage ist, wie man mit der Angst umgeht. Foto: dpa

W ie soll man es nennen, dieses üble Spiel, das Politik und Medien da gerade zocken? Wer bietet mehr? Wer packt den größten Hammer auf den Tisch, um schlichtweg eins zu produzieren: Angst. Angst vor dem, was da kommt, Angst vor den Fremden.

Es geht um die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland in diesem Jahr kommen werden. Genau kann die niemand beziffern. Wie denn auch? Das Jahr ist ja noch nicht zu Ende. Also wird geschätzt. Und da – wie man seit Karl Valentin weiß – Prognosen schwierig sind, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen, wird eine Faktenlage suggeriert, bei der einem Hören und Sehen vergeht.

800.000. Diese halbwegs seriöse Zahl stammt von Innenminister Thomas de Maizière. Gigantische 60 Millionen Flüchtlinge wollte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer schon Ende Juli an den Grenzen gezählt haben. (Kleiner Tipp an den Graf Zahl aus Bayern: Falls Sie noch mal eins drauflegen wollen, bitte nicht höher als 7,4 Milliarden gehen. Denn mehr Menschen gibt es nicht.)

Am Montag posaunte nun die sich neuerdings gern als menschenfreundlich gerierende Bild die neueste Zahl im Flüchtlingspoker raus: 1,5 Millionen kommen. Samt nachziehenden Familienmitgliedern werden daraus sogar 7,36 Millionen. Da kann, da soll einem schon angst und bange werden. Ängste gibt es längst in der Bevölkerung. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Man könnte ihnen begegnen, indem man Lösungsansätze aufzeigt.

Ängste gibt es längst in der Bevölkerung. Die Frage ist, wie man damit umgeht

Das Problem ist nur: Die Angstmacher in der Großen Koalition haben keinen Plan. Schlimmer noch, viele von ihnen wollen offenbar keinen haben. Weil sie überfordert sind. Nicht von den Flüchtlingen, sondern von der Aufgabe, radikal umzudenken.

Denn dann müssten sie ja kurzfristig ein radikal soziales Wohnungsbauprogramm aus dem Boden stampfen. Mittelfristig einen schwierigen Friedensprozess nicht nur für Syrien anstoßen. Und langfristig die Mitverantwortung der Bundesrepublik eingestehen, die sie durch Waffenexporte oder verfehlte Entwicklungspolitik trägt. Ja, das ist anstrengend. Viel anstrengender jedenfalls, als die Angst vor Flüchtenden zu schüren. Was Letztere betrifft, gibt es tatsächlich derzeit eine seriös belegte Zahl: 550.000 sind bis Ende September gekommen. Alles andere als ein Grund zur Panik.

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Gereon Asmuth
Ressortleiter taz-Regie
Leiter des Regie-Ressorts, das die zentrale Planung der taz-Themen für Online und Print koordiniert. Seit 1995 bei der taz als Autor, CvD und ab 2005 Leiter der Berlin-Redaktion. 2012 bis 2019 Leiter der taz.eins-Redaktion, die die ersten fünf Seiten der gedruckten taz produziert. Hat in Bochum, Berlin und Barcelona Wirtschaft, Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation und ein wenig Kunst studiert. Mehr unter gereonasmuth.de. Twitter: @gereonas Mastodon: @gereonas@social.anoxinon.de Foto: Anke Phoebe Peters
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13 Kommentare

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  • Der Kommentar ist mir etwas zu lässig. 550.000 Flüchtlinge in neun Monaten sind natürlich kein Grund zur Panik.

     

    Aber diese Zahl ist ein Grund für verstärkten Wohnungsbau, für den Bau neuer Schulen, neuer Kindergärten. Und für die neuen Schulen und neuen Kindergärten werden neue Lehrer und Kindergärtner gebraucht.

     

    Passiert irgendetwas davon?

     

    Wo sind die Baustellen für die benötigten Wohnungen, Kindergärten und Schulen?

     

    Wenn da nicht bald die Bagger rollen, dann wird die Situation für die Flüchtlinge und die Armen im Land unerträglich.

  • Das Schlimmste hat man uns noch gar nicht gesagt: Die 7 Millionen+ trinken uns das Bier weg! Die deutschen Brauereien, ohnehin schon am Limit ihrer Leistungsfähigkeit, können den Nachschub nicht mehr sichern, wenn so viele außerplanmäßige Mittrinker im Schland auftauchen!

  • Auch bei der taz scheint nicht immer so ganz klar zu sein, was nun pure Angstmacherei ist und wo es knallharte Fakten gibt, die tatsächlich Grund zur Angst geben. Seit Jahr und Tag weist die taz völlig zu Recht darauf hin, dass aufgrund ungezügelter Produktion durch die damit verbundenen Umweltemissionen vor allem stark bevölkerte Gegenden auf der Erde zunehmend unbewohnbar werden. Wenn ich dann - satirisch überspitzt - anmerke, dass sich in den nächsten Jahren wohl auch viele Chinesen auf die Fluch vor der von den europäischen Dieselautos zu dick gewordenen Luft begeben, dann wird mein Kommentar hier einfach gelöscht. Werdet Euch doch bitte mal einig, welchen Standpunkt ihr - wenn überhaupt - in dieser Angelegenheit vertreten wollt.

    • @Rainer B.:

      Ich les die TAZ eigentlich um mindestens zwei Standpunkte zu einer Angelegenheit zu bekommen. Die Erwartung wird zwar oft nicht erfüllt, aber noch oft genug. In diesem Sinne wünsche ich, daß man sich hier nicht einig wird. Für Kompromisse gibt es Merkel.

      • @TV:

        Wozu sollte man noch eine Zeitung lesen, die in ihren Aussagen ähnlich beliebig bleibt wie Merkel? Damit liefe doch die oft berechtigte Kritik der taz an anderen Medien nur noch ins Leere. Mehrere mögliche Standpunkte ersetzen auf Dauer die Linie nicht - im Gegenteil.

  • so siehts aus! schöner kommentar.

  • Wir haben Angst vor den Flüchtlingen, weil sie uns die Augen öffnen für unsere größte Lebenslüge: Dass wir und unsere Eltern unseren Wohlstand durch Arbeit geschaffen haben. Nein... wir haben ihn durch Ausbeutung und Kriege in deren Ländern geschaffen.

    Und wir haben nicht gefragt ob sie das wollen, deshalb werden auch sie uns nicht fragen, ob sie herkommen dürfen. Wir können sie reinlassen oder wir schauen ihnen an unseren Grenzen beim Sterben zu.....

    • @robby:

      Auf eine individuelle Ebene heruntergebrochen, muss man ihre Äußerungen wohl den Artefakthandlungen oder, etwas altbacken, dem neurotischen Stolz zuordnen. Das Gefühl von Verantwortung und der Impuls zu Veränderungen in Anbetracht der aktuellen Herausforderungen kann sicher nicht aus Selbstverachtung erwachsen.

      • @pillar:

        `Robby`hat keine Selbstverachtung verlangt, sondern Einsicht zu unseren Fehlern, um richtig handeln zu können.

        Diese Fehler werden übrigens auch im Inland begangen, indem prekäre Beschäftigte mit ihren unsicheren Arbeitsplätzen und ihrem Dumpinglohn die höher Verdienenden bezahlen.

        Damit lassen sich die Schuldigen, auch für die international begangenen Taten, auf die Wirtschaft - genauer die Großkonzerne - einschränken.

        Die Politik und das Volk sind dabei nur Statisten.

  • Ich stimme zu. Wir Linke sollten respektieren, dass Konservative einfach ängstliche Menschen sind. Ängste und Sorgen, verbunden mit einem Mangel an Hoffnung, machen sie konservativ. Universelle Menschenrechte hören sich für viele eher Konservative zwar nach einem schönen Ideal an; in der Realität wird der Gedanke daran aber nicht nur von eigenen Sorgen erstickt, sondern auch von der oft höchst frustrierenden Erfahrung, dass die Realität oftmals sehr weit davon entfernt ist.

     

    Wenn in Wirtschaftskrisen die Armut steigt, wenn Menschen in der sogenannten gesellschaftlichen Mitte zunehmend Zukunftssorgen haben, dann wachsen auch nationalistische Ressentiments wie Unkraut im Regen. Wenn ich das beschreibe, dann geht es mir übrigens keineswegs um Legitimität solcher Positionen. Selbstverständlich gibt es keinerlei Rechtfertigung dafür, aus eigenen Abstiegsängsten heraus noch Schwächere zu diffamieren, und es kann auch keine geben. Mir geht es hier darum, eine gesellschaftliche Realität zu beschreiben, ausdrücklich ohne diese Position zu legitimieren.

     

    Wenn wir eine nachhaltige Willkommenskultur etablieren wollen, müssen wir die Ängste dieser Menschen wahrnehmen und auf sie eingehen. Dann müssen wir eine Willkommenskultur etablieren, die auch durchschnittliche Konservative integriert, nicht nur Flüchtlinge. Lediglich den ultrarechten Rand können wir dabei ignorieren, der wird sich in solch ein Weltbild nicht integrieren lassen.

     

    Dies ist der Grund, warum ich es wichtig finde, die Debatten über Flüchtlinge und Asylrecht sowie die über soziale Gerechtigkeit ausdrücklich miteinander zu verbinden. Sie gehören meiner Wahrnehmung nach zusammen wie die zwei Seiten einer Münze. Soziale Gerechtigkeit ist ein Thema, das den Spagat schaffen könnte, die Ängste der Konservativen aufzugreifen und Wege in die Zukunft aufzuzeigen, ohne entweder Flüchtlinge oder durchschnittliche Konservative "vor die Tür zu setzen".

    • @Smaragd:

      Sorry, weder sind die angesprochenene Konservativen per se 'ängstliche Menschen' oder gar 'Hoffnungslose' looser. Es sind in der Regel Rassisten, oft gebildet - sogar mit Abitur und Strudium sowie gesichertem Beruf. Schon 1933 kümmerten den Durchschnittsbürger Menschenrechte einen Dreck - und daran hat sich leider nicht viel geändert....

    • @Smaragd:

      Ich teile Ihre Meinung. Allerdings frage ich mich, was sie mit 'wir Linke' meinen. Diese Verortung ist spätestens seit den 30er Jahren nicht zu halten: Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches. Eine sozialpsychologische Untersuchung. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1980. ISBN 3-421-01913-4.