Kommentar CDU-Wahlkampfstrategie: Steigen Sie in den Ring, Frau Merkel!

Martin Schulz wirft der Kanzlerin vor, ihre Wahlkampfstrategie schade der Demokratie. Nun ist das Gebrüll groß. Dabei hat die SPD Recht.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei einer Pressekonferenz am 22.06.2017 in Brüssel

Merkel liebt präsidiale Vagheit, sie mag keine Konkretion. Leider. Foto: dpa

Plötzlich ist was los im beginnenden Wahlkampf. Die Union brüllt: „Unwürdig!“ Die SPD brüllt zurück: „Heult doch, ihr Wattebäuschchen-Loser!“ Und natürlich, das vorab, ist es falsch, Angela Merkel als Antidemokratin hinzustellen. Wenn Martin Schulz der Kanzlerin einen „Anschlag auf die Demokratie“ vorwirft, hat das etwas verzweifelt Überdrehtes. Der Sozialdemokrat beißt nachts vermutlich weinend ins Kopfkissen, weil er kein Rezept gegen die populäre Kanzlerin findet.

Interessanter als Performancekritik ist aber der Kern des Arguments. In der Aufregung kommt nämlich etwas Entscheidendes zu kurz: Die SPD hat Recht. Merkel liebt präsidiale Vagheit, sie mag keine Konkretion. Ihr Konzept vergangener Wahlkämpfe, WählerInnen des gegnerischen Lagers durch kalkulierte Nicht-Positionierung einzuschläfern, sediert den Diskurs. Und ihre Weigerung, relevante Fragen zu diskutieren, schadet der Demokratie.

Diese Frage muss erlaubt sein: Was will Merkel eigentlich in den nächsten vier Jahren – außer regieren?

Man weiß bisher ja eher, was sie nicht will – etwa: keine Rentenreform. Merkel hat neulich noch einmal betont, es gebe bis 2030 keine Notwendigkeit, das Rentensystem zu verändern. Das Thema müsse man jenseits des Parteiengeplänkels in Ruhe diskutieren, assistiert ihr Generalsekretär. Ernsthaft? Der demografische Wandel ist die zentrale Herausforderung für die deutschen Sozialsysteme, irgendwann droht der Kollaps. Und die CDU will nicht über die Rente streiten? Wäre es nicht so traurig, würde man darüber lachen.

Image und Handeln klaffen auseinander

Auch in der Steuerpolitik weiß man nichts Genaues. Merkels CDU liebäugelt mit einer Entlastung von 15 Milliarden Euro. Sie will den Soli-Zuschlag für alle abbauen, Korrekturen bei der Einkommensteuer, aber auf keinen Fall Steuererhöhungen. Das liefe auf eine Reform hinaus, die den Staat dauerhaft schwächt, weil eine Gegenfinanzierung fehlt. Vor allem Gutverdiener würden profitieren, weil sich bei ihnen die Entlastungen summieren. Ist das so gemeint? Ein paar trockene Zahlen wären hilfreich, damit sich die BürgerInnen ihre Meinung bilden können.

Oder die Europapolitik. Hier klaffen Merkels Image und ihr Handeln weit auseinander. Die Kanzlerin wird nicht müde, angesichts von Trump, Brexit und Co. den Wert der Europäischen Union zu betonen. Ihr Bierzelt-Satz ist legendär. Doch in der Realität nimmt Merkel in Kauf, dass sich Griechenland kaputt spart. Schäuble verweigert dem kranken EU-Partner Schuldenerleichterungen, damit die Deutschen nicht denken, er werfe den Griechen ihr Geld hinterher. Merkels doppeltes Spiel stärkt die EU nicht, es spaltet. Soll das so weitergehen?

Die kühle Entgegnung, Merkel fahre mit dem Verzicht auf Inhaltliches ja sehr erfolgreich, wird dem Ernst der Sache nicht gerecht. Ja, es stimmt: Für viele Menschen ist das Vertrauen in eine Person wichtiger als die Spiegelstriche im Wahlprogramm. Merkels „Sie kennen mich“-Wahlkampf 2013 war ja vor allem das Versprechen, dass sich nichts ändert – und sensationell erfolgreich.

Erfolg darf jedoch nicht der einzige Maßstab sein. Der Streit um die bessere Idee ist nun einmal die Essenz des Politischen. Zwischen Demokraten müssen die Unterschiede klar erkennbar sein, sonst profitieren die Rechtspopulisten. Sie kochen ihr braunes Süppchen mit der Wut auf angeblich gleiche „Systemparteien“. Sie sind die großen Profiteure, wenn der inhaltliche Streit ausstirbt.

Die Spitzenleute von CDU und CSU basteln im Moment an einem gemeinsamen Wahlprogramm. Anfang Juli soll es vorgestellt werden. Die spannende Frage ist, ob Merkel sich dieses Mal traut, in die Details zu gehen und zu erklären, wohin sie will. Oder ob sie wieder – und das ist nicht unwahrscheinlich – auf einen wolkigen Wohlfühl-Wahlkampf setzt. Für Letzteres aber sind die Zeiten ein bisschen zu ernst. Steigen sie endlich in den Ring, Frau Bundeskanzlerin!

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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