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Kommentar BrexitHonest and fair, please!

Dominic Johnson
Kommentar von Dominic Johnson

Ein „Leave“ war für viele Briten die einzige Chance, ihre Unzufriedenheit zu zeigen. Wer darin nun eine Tragödie sieht, hilft Rechtspopulisten.

Sail away Foto: dpa

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It's Brexit – and many Europeans regard this as the ultimate disaster: a triumph for the nasty populist Right, the beginning of the end for the European project. This is the wrong response. Treating the result of the British EU referendum as the end of the world plays into populists' hands.

More than 17 million voters in the United Kingdom voted to leave the European Union, far more than ever voted for the winner of a British general election. It is an overwhelming vote, and its base is much wider than that of Nigel Farage and UKIP. Leave won with 52%. There is no pro-EU majority anywhere in Britain outside Scotland, Northern Ireland, London and a few cities.

Britons are dissatisfied for many reasons. Many people feel ignored by the establishment and unrepresented by any political party. It is hardly surprising that this dissatisfaction is now projected onto the EU, given that this is what they were being offered and that both sides claimed the result, whatever it was, would be decisive for all aspects of life.

Popular dissatisfaction alone could not have led Brexit to victory. Important parts of the establishment have also reached the conclusion that the EU is not the answer to Britain's problems. The EU's main projects are not those of Britain. British politics and law works differently than that of the Continent, and important aspects of British business and society are linked much closer to the rest of the world than to Europe. A divorce sooner or later was inevitable.

The European Union should not now make the mistake of being offended by the British vote, of seeking to punish the British for being naughty and of rejecting calls for reform. It should conduct honest and fair divorce proceedings with the UK, seeking to establish a framework of cooperation for the common good in the mutual interest acceptable to both sides.

Europe must work with Britain's moderate EU opponents and strengthen them, not stare at the extremist bogey Farage and give him the feeling of speaking for the 52 percent. If not, Marine Le Pen, Geert Wilders and others are already waiting in the wings to get their countries to emulate the British. Then, and only then, Europe will be truly and fatally damaged.

Nicht die ultimative Katastrophe

Brexit hat gesiegt, und viele Europäer sehen das als die ultimative Katastrophe: der Triumph des hässlichen Rechtspopulismus, der Anfang vom Ende des europäischen Projekts. Das ist die falsche Reaktion, und wer mit dem Ergebnis der EU-Volksabstimmung in Großbritannien so umgeht, als sei es ein Weltuntergang, spielt den Rechtspopulisten in die Hände.

Über 17 Millionen britische Wählerinnen und Wähler haben sich für den Austritt aus der EU ausgesprochen – weitaus mehr als jemals bei einer Parlamentswahl für den Sieger gestimmt haben. Es ist ein überwältigendes Votum, und seine Basis ist viel breiter als die von Nigel Farage und seiner kleinen UKIP. Ein Sieg mit 52 Prozent – außerhalb von Schottland, Nordirland, London und einigen Großstädten gibt es nirgends in Großbritannien eine EU-Mehrheit.

Die Briten sind mit den Verhältnissen aus allen möglichen Gründen unzufrieden, und viele Menschen sehen sich seit langem von keiner Partei mehr adäquat vertreten und vom politischen Establishment insgesamt ignoriert. Dass sie diese Unzufriedenheit nun auf die EU projiziert haben, ist nicht verwunderlich, wenn eine solche Volksabstimmung angesetzt wird und beide Seiten das Ergebnis als entscheidend für alle Lebensbereiche darstellen. Eine andere Möglichkeit, grundlegende Unzufriedenheit auszudrücken, wurde ja nicht geboten.

Unzufriedenheit im Volk allein hätte allerdings nicht zum Brexit-Sieg führen können, wenn nicht auch gewichtige Teile des Establishments zum Schluss gekommen wären, dass die EU nicht die Antwort auf Großbritanniens Zukunftsfragen ist. Die zentralen EU-Projekte sind nicht die der Briten. Das britische Politik- und Rechtsverständnis funktioniert nach anderen Koordinaten als die auf dem Kontinent, und auch wichtige Teile der britischen Wirtschaft und Gesellschaft sind viel stärker auf den Rest der Welt als auf Europa ausgerichtet. Früher oder später hätte es darüber sowieso zum Bruch kommen müssen.

Die EU darf jetzt nicht den Fehler machen, auf das britische Votum beleidigt zu reagieren, die Briten für ihre Unbotmäßigkeit bestrafen zu wollen und mit einem „Jetzt erst recht“ alle Reformansinnen empört zurückzuweisen. Sie sollte mit Großbritannien eine ehrliche und faire Scheidungsverhandlung führen, die die Modalitäten einer gleichberechtigten Zusammenarbeit im beiderseitigen Einvernehmen und unter Wahrung der Interessen beider Seiten klärt.

Europa muss in Großbritannien auf die moderaten Kräfte unter den EU-Gegnern setzen und mit ihnen arbeiten, nicht stärken, nicht auf das Extremisten-Feindbild Farage starren und diesem damit das Gefühl geben, er spreche für die 52 Prozent. Sonst stehen Marine Le Pen, Geert Wilders und andere schon in den Startlöchern, um es in ihren Ländern den Briten nachzumachen. Dann, und erst dann, wäre Europa wirklich in seinem Herzen fatal getroffen.

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Dominic Johnson
Ressortleiter Ausland
Seit 2011 Co-Leiter des taz-Auslandsressorts und seit 1990 Afrikaredakteur der taz.
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11 Kommentare

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  • Bemerkenswert schlecht informiert, für einen Auslandschef.

     

    Das Ganze hat eine technische/juristische Seite, die leider von den Kommentatoren gerne übersehen wird. Die EU stellt das bei weitem komplexeste zwischenstaatliche Vertragswerk der Zivilisationsgeschichte dar. Wenn man es verlässt, bleibt zunächst nur ein absolutes Minimum an Vertragsbasis (z.B. Handelsbeziehungen auf WTO-Niveau).

     

    Die Schweiz verhandelt seit 40 Jahren mit der EU über ihren Status und ist nicht fertig. Rest-GB wird genauso lange brauchen. Das ist kein Rosenkrieg, das sind einfach die Realitäten internationalen Rechts.

  • Lieber Dominic Johnson,

    in der Schule und auch danach habe ich immer gehört, Großbitannien, das ist Pragmatismus, common sense, Liberalismus and so on - und jetzt leisten sich über 17 Millionen britische Wählerinnen und Wähler eine derartige Kapriole, nur um auf den Popanz "EU" einzudreschen - ja sind deine Landsleute am Ende lauter Oscar Wildes? Wie kommen wir denn jetzt da wieder raus, gute Güte?

    Bedrückte Grüße,

    Peter Kultzen

    Berlin

  • Wenn ich mit meinem Leben zufrieden bin, geht es mir gut. Unzufriedenheit hat wenig mit der EU zu tun, sondern eher mit Feindbildern. GB hat nur eine Chance, wenn sie weiter liberalisieren und die Arbeitszeit weiter erhöhen und das Kapital mit vielen Freiheiten anlocken. Es wird einen Schock geben wie in Neuseeland, als GB in die EU eintrat und dieser Markt weg war.

  • Gleichberechtige Zusammenarbeit? Haben die Briten nicht schon längst eine privilegierte Position in der EU? ("Britenrabatt") Wieso dann jetzt Gleichberechtigung? Das wollen die doch wohl selbst nicht...

  • Warum bitte sind 52% ggü. 48% "überwältigend"? Immerhin haben mehr als 16 Millionen Britten eine andere Meinung. Letztendlich dokumentiert das Ergebnis doch nur eine tiefe Spaltung und wirft die Frage auf, ob eine schnöde Mehrheitswahl immer noch zeitgemäß ist...

  • Das Problem wurde in den TV-Umfragen immer wieder deutlich: "Wir wollen wieder selbst bestimmen in Großbritannien!" Dieser Wunsch ist verständlich, er verdrängt aber die Realität. Die EU ist nur der Ausdruck der neoliberalen Politik - die einst von Maggie Thatcher in GB gestartet - die Welt zerstört. Bald werden die Briten merken, dass ihre Regierung für den anhaltenden sozialen Kalschlag an erster Stelle zuständig ist. Bald folgt der Katzenjammer, wenn weiterhin Sozialleistungen gekürzt werden. Auf die EU kann man dann nicht mehr schimpfen, und dann? Die Reichen aller Länder werden weiter ungestört London aufkaufen und wachsende Ausländerfeindlichkeit wird John Bull als Ventil angeboten. Für den Kampf um soziale Politik ist es ziemlich Wurst, ob sie innerhalb oder außerhalb der EU stattfindet - denn es ist und bleibt der alte Satz gültig: "Der Feind steht im eigenen Land".

    • @Philippe Ressing:

      Dieses alleinige Schlagwort von der neoliberalen Politik ist unrealistisch. Wir haben beides, eine neoliberale und neo-keynesianische Politik, wenn man die Milliarden betrachtet, die die USA, UK, Japan die EZB in die Wirtschaft geballert haben. Japan ist mit 250% des BSP verschuldet! Abeismus genannt.

    • @Philippe Ressing:

      Die ökonomischen Modelle, die heute verfolgt werden, sind genauso neo-keynesianisch wie neo-liberal. Man nehme die Unmengen Geld, die Obama, GB, Japan (Abeismus) hineinballern, um den Laden zum Brummen zum bringen, wenn es denn klappt. Immerhin hat Obama General Motors damit gerettet. Am Umfang der Staatsverschuldung lässt sich das leicht ablesen, zwischen 100 und 250% in den genannten Ländern.

    • @Philippe Ressing:

      Was der Brexit Positives leistet, ist hoffentlich genau diese Transparenz - natürlich ist es nicht (allein oder vorrangig) das ominöse Brüssel, dass eine unsoziale Politik betreibt, die letzten Endes die Ausschüttung hoher Dividenden auf Kosten von Versicherung und bezahlbarem, sauberem Trinkwasser für die unteren 1-2 Fünftel der Bevölkerung (in manchen Ländern deutlich mehr) betreibt.

      Es sind vorrangig die nationalen Politiker (speziell Merkel und Juncker), die hier ihre lobbybestäubten Machenschaften auf verborgeneren und wirkungsvolleren Wegen umsetzen können - am Ende ist's keiner gewesen und man zeigt auf Brüssel. Sagt man dann etwas gegen Brüssel, werden die europäischen Werte beschworen (in aller Regel ohne praktisch angewandtes Beispiel.

       

      Ansonsten:

      Nachdem ich den letzten Artikel/Kommentar von Herrn Johnson sehr ungeschickt fand, möchte ich diesen hier als informativ, sachlich und hilfreich ausdrücklich loben - auch, wenn ihm das persönlich herzlich egal sein dürfte.

    • @Philippe Ressing:

      Dem stimme ich zu.

      Ich kann auch nachvollziehen, dass die Leute keine Komiision über Sie bestimmen lassen wollen, die keiner aus dem Volk so wirklich gewählt hat.

      Allerdings muss man dafür naiv genug sein zu glauben in europäischen Ländern herrsche wirklich Demokratie...

      Gut finde ich auch, dass du herausstallst, dass der Ursprung dieser Liberalismus-Bewegung in vielen Punkten auf Engländer selbst zurückgeht.

  • Wie kann eine Scheidung bei gleichzeitiger "Fortführung einer gleichberechtigten Zusammenarbeit im beiderseitigen Einvernehmen verlangt werden"? Die Regelungen zur "Scheidung" sind in den EU-Verträgen geregelt. Nachdem diese vollzogen ist, sollte über mögliche Fragen der Zusammenarbeit (insbesondere Freihandelszone und VISA) verhandelt werden.

     

    Dabei sollte seitens der EU berücksichtigt werden, dass eine mögliche "Weiche Landung" Englands für andere Länder ein Anreiz zu einem Austritt bieten könnte.