Kolumne Geht’s noch?: Yuppies, go home!
Work-Life-Balance fordern? Eine „freizeitorientierte Schonhaltung“, ätzt Werbeagentur-Chef von Matt. Das ist sogar strategisch dumm.
W erbeagenturen sind dazu da, so lange an Wörtern rumzuspielen, bis wir alle glauben, dass der Himmel grün, die Sonne kalt und Geiz geil ist. Letzteres glauben wir tatsächlich schon, das hat eine Firma namens Jung von Matt Anfang des Jahrtausends hingekriegt. Einer der Chefs dieser Agentur – nicht Jung, sondern von Matt – hat in dieser Woche ein ganz besonderes Glanzstück der Umdeutung geliefert.
In der aktuellen Zeit Campus spricht der Werber recht abfällig über junge Menschen, die sich bei Bewerbungsgesprächen nach der Work-Life-Balance erkundigen – Sie wissen schon, Work-Life-Balance ist das, wo man nur so viel arbeitet, dass man noch Zeit zum Wäschewaschen und für Familie und Freunde hat. Die Generation Y hat das erfunden, also diejenigen, die Zeit Campus lesen.
Für Jean-Remy von Matt jedoch ist das Bedürfnis, Arbeitszeit und Nichtarbeitszeit in ein gesundes Verhältnis zu setzen, nichts als das Anzeichen einer „freizeitorientierten Schonhaltung“.
„Freizeitorientierte Schonhaltung“ ist in Corporate Germany eine Art unheilbare Geisteskrankheit, vergleichbar mit Hysterie. Symptome sind die Forderung nach Überstundenausgleich und die Weigerung, Urlaubstage verfallen zu lassen, obwohl der Kunde spätabends angerufen hat und … Wie, Ihr Lebensziel besteht nicht aus durchmalochten Nächten und einer Schlaftablette, runtergespült mit Weinbrand morgens um sechs? Hinfort mit Ihnen in die Bedeutungslosigkeit!
Kreativität und Verspieltheit
Die Ratgeberliteratur auf den Wühltischen der 2000er war voll von dieser und anderen Vokabeln, die dazu gedacht waren, dass man sich neurolinguistisch umprogrammiert – damit der „innere Schweinehund“ (heißt: Müdigkeit, Hunger, kein Bock mehr auf Arbeit) den Weg in Richtung „Erfolg“ nicht versperrt (heißt: Überstunden, Leben für den Beruf, alle hassen dich).
Es ist völlig in Ordnung, dass die Yuppies ihr Glück auf diese Weise gesucht haben. Dass jemand jetzt aber diese Wortaltschöpfung recyceln und den aktuellen Berufseinsteiger*innen reindrücken muss (genau denen, die gerade anfangen sich zu fragen, warum wir eigentlich ausgerechnet 40 Stunden arbeiten und nicht etwa 30), ist nicht nur unorginell, sondern auch strategisch dumm.
Denn die Generation Y definiert sich außer über das Bedürfnis nach Work-Life-Balance auch noch über Kreativität und Verspieltheit. Und wer braucht genau das? Werbeagenturen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin