Kolumne Die eine Frage: Ein weißer Tag für die Grünen

Nach dem Flüchtlingskompromiss: Was macht die Grüne Partei aus der historischen Situation? Sie übernimmt gesellschaftspolitische Verantwortung.

Ein Gewitter über Deutschland

Eine Krise mit Anfang und Ende? Nein, eine Zeit fortlaufender Prozesse. Foto: dpa

Man möchte gar nicht wissen, wie viele Telefonate usw. der flüchtlingspolitische Notplan des Bund-Länder-Gipfels die Spitzengrünen aus den Ländern gekostet hat. Und zwar nicht nur mit anderen Politikern, sondern vor allem in der eigenen Partei. Als der Realitätspolitiker Boris Palmer in der taz Klartext geredet hatte, ging es noch mal richtig ab.

Aber nun steht im Ergebnis eine in der Öffentlichkeit geschlossen erscheinende Grünen-Partei und eine Flüchtlingspolitik, mit der alle drei verantwortlichen Parteien versuchen, mit den Bedürfnissen und Grenzen der Realität (und ihrer Wähler) zu Rande zu kommen. Man arbeitet im „Krisenmodus“ und „auf Sicht“, wie Winfried Kretschmann am Donnerstag in seiner Regierungserklärung sagte. Heißt: Man muss täglich strampeln, dass man es irgendwie hinkriegt.

Dass Landespolitiker und Beamte das trotz des mutmaßlichen Planungsversagens der Bundesregierung (Union und SPD) bisher hingekriegt haben, verdanken wir einer sich selbst ermächtigt habenden Bürgergesellschaft. Das ist eine grandiose Leistung, die man sich von Hippie- und Hyperkompensationsanalysen nicht schlechtreden lassen muss.

Für die Verstetigung muss man sich eines klar machen: Es handelt sich nicht um eine „Krise“ mit Anfang und Ende. Wir leben in einem Zeitalter „fortlaufender Prozesse“, wie der Klimakulturforscher Harald Welzer zu sagen pflegt. Klimawandel, Ressourcenübernutzung, Bevölkerungswachstum, Hunger, versagende Staaten, Völkerwanderung: All das schreitet voran und hat kumulative Wirkung. Würde man da sagen, „Kommt alle zu uns“: Das wäre unmöglich und unsinnig.

In einer 16-teiligen Serie haben wir Flüchtlinge gebeten, uns das zu erzählen, was ihnen jetzt gerade wichtig ist. Wie erleben sie Deutschland, worauf hoffen sie, wie sieht ihr Alltag aus? In ihren Ländern waren sie Journalisten, Autoren, Künstler. Sie mussten Syrien verlassen, Russland, Aserbaidschan oder Libyen. Jetzt sind sie in Deutschland. Was sie zu sagen haben, lesen Sie im Oktober täglich auf taz.de. Alle Geschichten gebündelt gibt es in der taz.am wochenende vom 2./3./4. Oktober, erhältlich am eKiosk.

Vielleicht überlegt sich mal jeder für seine echte Welt, wie weit er gehen kann. Nehmen wir an, Sie seien Journalist und immer mehr FAZ-Redakteure fliehen in Ihre Redaktion, weil die FAZ sich als Failed State herausstellt; die heißen Sie willkommen und geben Ihnen etwas ab. Das versteht sich von selbst.

Klug und sozial

Aber was, wenn die Möglichkeiten erschöpft sind, die Büros bersten, der Stern auch noch einrückt und das eigene Gehalt geteilt werden muss? Die sind viel mehr als Sie. Kulturell anders. Und dann auch noch Jasper von Altenbockum. Sollte man nicht die Situation in Frankfurt und Hamburg vor Ort verbessern?

Es scheint mir überhaupt nicht egoistisch, sondern klug und sozial, wenn man so viele Menschen integriert, wie man kann, damit es in der Summe nutzt: den Geflüchteten und denen, die bereits EU-Bürger sind. Man kann nicht die sich zart entwickelnde Bürgergesellschaft vor eine unlösbare moralische Aufgabe stellen und dann sagen: Hab’s ja gleich gewusst, dass das hier alles schlimm endet. Letztlich steckt dahinter ein genauso negatives Menschenbild wie in den Teilen der Union, die mit den Beschwörungen, dass die „gute Stimmung kippen“ könnte, daran arbeiten, dass sie kippt.

Wenn im Kern der Bürgergesellschaft auch in dieser Frage zunehmend „grüne Werte“ gelebt werden, dann ist die Frage für die Union: Mitgehen wie Merkel? Oder nicht. Und die Frage für die Grünen ist: Was machen sie diesmal draus, nachdem sie die Volkspartei nach Fukushima mit Kretschmann manifestiert und mit Trittin ausgetrieben haben?

Ich sehe das so: Die Grünen Protagonisten haben in einer womöglich historischen Situation ihre gesellschaftspolitische Verantwortung nicht für selbstgefälliges Moralwachstum verdealt. Sie sind mit der Mitgestaltung des flüchtlingspolitischen Notplans ihrer Regierungsverantwortung in neun Bundesländern gerecht geworden.

Es war ein weißer Tag für die Grünen, aber vor allem für die Flüchtlinge und für unser Gemeinwesen.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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